Es „wagnert“ kräftig in der Partitur für den „Golem“, der 1926 in Frankfurt/Main uraufgeführt wurde: Adaptiert wurden von Eugen d’Albert (1864–1932) verschiedene Motive aus dem „Ring“ und den „Meistersingern“. Doch immer wieder entgleitet der tonale Strom des Musikdramas den nicht mehr sonderlich frischen Bahnen des Wagnerismus und entwickelt, bereichert durch rhythmische Deklamation oder eine nur vom Schlagzeug unterlegte Soprankantilene, gestützt auf tritonusgeschärfte Harmonik oder flirrende Sechzehntelfiguren eigenständige Züge.
Stefan Blunier lässt das Beethoven Orchester Bonn die als „spätromantisch“ begriffenen Grundgesten des Tonsatzes in recht vollen Zügen auskosten. Die Momente der Brechung bleiben diskret.
Das Textbuch von Ferdinand Lion, der auch das Libretto zu Paul Hindemiths „Cardillac“ verfaßte und in dem sowohl der Duktus der Wagnerschen Dichtungen wie die Sprache des Expressionismus nachhallen, geht auf ein Drama von Arthur Holitscher (1908) zurück. Es rekurrierte auf die aus dem 139. Psalm stammende, in der talmudischen Überlieferung bedeutsame Figur aus „noch ungeformter Masse“, führt ins frühneuzeitliche Prag, zu Rabbi Loew und berührt sowohl die Sphäre der Alchemisten, die aus Lehm oder anderen Substanzen einen künstlichen Menschen zu erschaffen suchten, dabei auch magische Buchstabenformeln verwendeten. Auch der Kaiserliche Hofastronom Tycho Brahe kommt am Rande vor: der Natur sollen Geheimnisse entrissen werden und geheimes gelehrtes Wissen genutzt werden: Es geht um die Beseelung von unbeseelter Natur und um die Problematik des Zauberlehrlings, dessen Inanspruchnahme magischer Kräfte mobilisiert, dessen Geschöpf jedoch außer Kontrolle gerät. Das alles zusammen und die Tatsache, daß Eugen d’Albert, der in Glasgow geboren wurde und sich zuletzt in Riga aufhielt, Mitte der 20er Jahre, in der Zeit des gewaltig heraufziehenden Antisemitismus, sich einer explizit jüdischen Thematik annahm, ergibt – zusammen mit der insgesamt ergiebigen Musik – ein ganzes Bündel von Gründen, einen neuen Blick auf diese Oper zu werfen.
Von einer Gelehrtenstube ist in der Bühneninstallation von Anne Neuser wenig zu erkennen. Sie etablierte für den Rabbi und seine Laboratoriums-Anordnungen eine „heilige Halle“: unter einer zunächst geschlossenen Kuppel wie der des Pantheon oder auch gegenreformatorischer Kirchbauten agiert der geistliche Führer der Prager Juden und befasst sich mit seinem Menschenversuch. Personal für die Gaukelei, die er Kaiser Rudolf II. vorführt, kauert am Fuße der halbrunden Wand.
Die Regisseurin Andrea Schwalbach wollte dem „Golem“ den spätmittelalterlichen Odem nehmen und abstrahierte von Prag, vom Ghetto, vom jüdischen Gelehrtenhaushalt und von der Ankunft der aus Spanien vertriebenen Juden – überhaupt vom fernen Jahrhundert. Abstrahierend stellt sie die Frage, ob der Zweck wirklich die Mittel heiligt und wie teuer Freiheit die Opfer zu stehen kommt. Und sie zeigt Figuren, die auf unterschiedliche Weise in den Versuch des Rabbi Loew involviert werden. Dabei deutet sie lediglich an, wie der zu Riesenkräften erwachende Golem von einer potentiell segensreichen Schöpfung zu einer zerstörerischen Kraft mutiert und die Gemeinde ängstigt. Gar nicht gut bekommt auch Lea, der Tochter, die Einbindung: sie hilft der Beseelung des Kunstprodukts und opfert sich, um es wieder zu entseelen. Ingeborg Greiner gestaltet die Partie der Lea mit deren höchst differenzierten Anforderungen, Mark Morouse verleiht dem Golem Stimme und Gestalt.
Rabbi Loew erscheint als Honorarkonsul des Abgründigen. Dieser halb so bedächtige, halb bedenkenlose Vater, ausgestattet mit Alfred Reiters profunder und wunderbar ruhig geführten Stimme, ist Opfer und Täter zugleich. Daß dieser Aspekt hervorgehoben wird, entbehrt nicht der Aktualität. Freilich bleibt es angesichts der Tiefendimensionen von Stoff und Stück doch etwas flach. Welch merkwürdige Angst vor historisch Konkretem hat das Gegenwartstheater befallen? Offensichtlich gerade auch hier, wo es um ein so wundersam vielschichtiges Sujet geht.