Der Dirigent Sir Thomas Beecham verglich Beethovens Jubelchor mit der populistischen Rede eines auftrumpfenden Politikers. Hitler liebte diesen Chor. Stalin meinte, Beethovens Neunte sei „die richtige Musik für die Massen“.
Humanitäres Bekenntnis oder überfrachtetes Feierstück?
Der Komponist stand neben dem Kapellmeister Michael Umlauf und dirigierte kräftig mit, die offene Partitur vor sich. Da er seit Jahren völlig ertaubt war, konzentrierte sich Beethoven dabei auf die Vorgabe der wechselnden Tempi und – im Schlusssatz – auf den Einsatz der Sängerinnen und Sänger. Die Orchestermusiker der Uraufführung haben ihn wohl wenig beachtet – sie achteten mehr auf Ignaz Schuppanzigh, den Konzertmeister an der ersten Geige und intimen Beethoven-Freund. Dass das ganze Unternehmen große Schwierigkeiten bot, war offensichtlich. Doch das Publikum im Wiener Hoftheater am Kärntnertor reagierte enthusiastisch und feierte den 53-jährigen Beethoven mit lautem Jubel. Davon bekam er allerdings erst etwas mit, als man ihn zum Publikum hin drehte und er die wild applaudierenden Menschen sehen konnte. Fünf Mal soll er gefeiert worden sein an diesem 7. Mai 1824, an dem auch seine Ouvertüre zu „Die Weihe des Hauses“ (op. 124) und Ausschnitte aus der Missa solemnis (op. 123) aufgeführt wurden. Doch trotz des großen Erfolgs machte der Veranstalter – das war Beethoven selbst – kaum Gewinn.
Das umjubelte Premieren-Konzert wurde – wenig verändert – rund zwei Wochen später in der Wiener Hofburg wiederholt. Im nächsten Jahr erklang die Neunte Sinfonie erstmals in Frankfurt und Aachen, im Jahr darauf in Leipzig und Berlin. Auch in London war sie 1825 schon zu hören – dort saß nämlich Beethovens Auftraggeber. 1831 folgte Paris, 1836 Sankt Petersburg, 1846 New York. Außerhalb Europas und Nordamerikas lernte das Konzertpublikum die Neunte erst im Lauf des 20. Jahrhunderts kennen. Beethovens Originalpartitur wurde nach seinem Tod übrigens stückweise versteigert, einzelne Teile gingen auch nach London und Paris. Erst 1992 konnten die verschiedenen „Päckchen“ wieder vereint werden – ein echt europäisches Projekt also. Passenderweise hat man die berühmteste Melodie der Neunten zur Europahymne erklärt. Herbert von Karajan hat sie in drei verschiedenen Instrumentierungen arrangiert. Diese Hymne dauert gerade einmal eine Minute.
„Lang und verwirrt“
Für die Musikwelt bedeutete Beethovens Neunte einen gewaltigen Einschnitt. Schon allein wegen ihres Umfangs: Sie dauert mehr als doppelt so lange wie die längsten Sinfonien von Haydn und Mozart. Dann aber vor allem wegen der Einbeziehung der Vokalsolisten und des Chors: Das war bis dahin undenkbar gewesen in einer Sinfonie. Richard Wagner verstand diesen Rückgriff auf die menschliche Stimme als die Geburtsstunde des Gesamtkunstwerks. Später hat so mancher große Sinfoniker Beethoven nachgeeifert und Chöre und Solostimmen in seine Sinfonien integriert. Durch Beethovens letztes Orchesterwerk, seine „Apotheose“ und „Vollendung“, ist die Zahl 9 für alle Sinfonienkomponisten geradewegs zum Mythos geworden. Bruckner, Mahler, Dvorák: Mancher ängstigte sich vor der Vollendung oder Überschreitung der Neunzahl an Sinfonien. Und wo eine Neunte gelang, stand Beethovens Werk immer mit im Raum – und sei es, dass eine „Anti-Neunte“ versucht wurde (Schostakowitsch, Henze). Von Arnold Schönberg stammt der Satz: „Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe.“
Außerhalb der eigentlichen Musikwelt zählt Beethovens Neunte seit langem zu den berühmtesten Werken der europäischen Musik. Bei der Entwicklung der CD-Technik gab eine Aufnahme der Neunten sogar die Spieldauer des neuen Tonträgers vor. Ihren Ruhm verdankt diese Sinfonie natürlich ihrem vierten Satz oder, wenn wir ehrlich sind: nur der kleinen, kinderleichten Melodie, die 1970 (im großen Beethoven-Jahr) als „Song of Joy“ zum Welthit wurde und 1985 zur offiziellen Europahymne. Diese Melodie geistert heute tausendfach als Zitat oder Parodie durch Pop, Rock und Jazz. Dagegen sind weder die ersten drei Sätze der Sinfonie noch all die verschiedenen Tempowechsel, Stimmungsumschwünge und Zwischenspiele im 25-minütigen Schlusssatz jemals wirklich populär geworden. Dennoch gehört die komplette Neunte immer wieder zum Pflichtprogramm politischer Großereignisse und Gedenkfeiern – ein fast 70-minütiges Werk, bei dem der Chor drei Sätze lang nur untätig herumsteht. Karl-Heinz Ott meint zu Recht, „dass so mancher Konzertbesucher vermutlich sehnlichst aufs Ende mit dem berühmten Jubelchor wartet“. Tolstoi nannte Beethovens Neunte einfach nur „lang und verwirrt“.
Die Musik mit Schiller zum Sprechen bringen
Die Idee, Friedrich Schillers Gedicht „Ode an die Freude“ (1785) zu vertonen, hatte Beethoven schon 1793, zur Zeit der Französischen Revolution. Damals hieß es, er wolle „jede Strophe bearbeiten“ – das hat Beethoven zum Glück dann doch nicht getan, sondern eine Auswahl getroffen. (Die komplette Ode – Schiller: „ein schlechtes Gedicht“ – hat 108 Zeilen!) 1812 plante Beethoven dann, eine Ouvertüre zu Schillers Versen zu schreiben. Zur selben Zeit entstanden unabhängig davon die ersten Ideen für eine d-Moll-Sinfonie. Schon 1814 soll er das Thema für sein Scherzo gefunden haben. Die Skizzen wurden dann aber so umfangreich, dass er zeitweise sogar zwei d-Moll-Sinfonien plante. 1818 hatte er wohl erstmals den Einfall, im letzten Satz Gesangsstimmen zu verwenden – er dachte dabei an eine „Feier des Bacchus“. 1821 begann er endlich, ernsthaft zu komponieren. Erst spät (zum Jahreswechsel 1822/23) legte er sich auf Schillers Verse fest. Die Anlage des Finalsatzes hat er hundertfach verändert und korrigiert. Bis zuletzt – auch noch nach der Uraufführung – erwog Beethoven, den 4. Satz vielleicht doch lieber rein instrumental zu gestalten.
Was hat Beethoven überhaupt dazu gebracht, seine Sinfonie in einem vokalen „Jubelchor“ enden zu lassen? Nach dem „düsteren Riesenbild“ (A.B. Marx, 1859) des ersten Satzes, der Perpetuum-mobile-artigen Geschäftigkeit des Scherzos und der nahezu religiösen Innigkeit des Adagios sollte eine klare, positive Botschaft am Ende stehen. Dieser Entschluss wird in den ersten sechs Minuten des Finalsatzes verhandelt. Der dissonanten „Schreckensfanfare“ (Wagner) und den Zitaten aus den drei vorangegangenen Sätzen „widerspricht“ das Rezitativ der Celli und Kontrabässe – ein bemerkenswertes kleines Instrumental-Drama. Und dann macht die Bassstimme in Worten hörbar, was die tiefen Streicher sagen wollen: „Nicht diese Töne, sondern freudenvollere!“. Fühlte sich Beethoven etwa künstlerisch häufig missverstanden, so dass er dieses eine Mal endlich explizit werden wollte? Oder litt er so sehr unter der durch seine Taubheit eingeschränkten Kommunikation, dass ihm eine „gehörte“ verbale Mitteilung besonders wichtig war? Häufig wurde sein Drang, hier „die Musik zum Sprechen zu bringen“ (Adorno), so oder ähnlich gedeutet.
Mit Symbolik überfrachtet
Nur der Verwendung von Schillers Versen ist es zu verdanken, dass wir Beethovens Neunte gerne als „humanitäres Bekenntnis“ des Komponisten verstehen. (Nietzsche hielt das für einen Aberglauben.) Die Neunte aufzuführen, ist heute ein politisches Statement – sie sei zum „Feierstück“ verkommen, meinte Michael Gielen. Was die Neunte symbolisieren soll, sind Zusammenhalt, Brüderlichkeit und Optimismus, die Werte der Französischen Revolution. Daher hat die „Song-of-Joy“-Melodie häufig auch als vorläufige Nationalhymne dienen müssen – in Rhodesien, im Kosovo, in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, auch für gesamtdeutsche Olympiamannschaften in der Zeit der deutschen Teilung. Richard Wagner spielte die Neunte 1849 als Revolutionshymne und 1872 zur Grundsteinlegung in Bayreuth. Kurt Masur dirigierte sie beim letzten DDR-Staatsakt, Leonard Bernstein zur Feier der deutschen Wiedervereinigung („Freiheit, schöner Götterfunken“), Sir Simon Rattle zum Jahrestag der deutschen Kapitulation.
Kein anderes Werk der Musikgeschichte wurde im Nachhinein mit so viel Symbolik überfrachtet wie Beethovens Neunte. Im 19. Jahrhundert war ihre Deutung fast ein Nationalsport, worüber sich schon Robert Schumann lustig gemacht hat. Er nennt auch mehrere Beispiele – vermutlich hat er sie nicht erfunden. So wurde die Neunte von manchen als großes Bekenntnis zum Deutschtum gehört – schließlich enthält der letzte Satz eine Doppelfuge, eine urdeutsche Form. Dann wurde sie als Darstellung der literarischen Gattungen interpretiert: Epos, Humor, Lyrik und Drama – das sind die vier Sätze. Auch als Entstehungsgeschichte der Welt gemäß dem 1. Buch Mose wollte man sie begreifen. In der wilden Unruhe des düsteren ersten Satzes findet bis heute vor allem eine Stelle viel Beachtung: der gewaltige Einsatz der Reprise. Adorno nennt das „eine der folgenreichsten Stellen der Musik“ und findet ihr Echo bei Brahms, Bruckner, Mahler und Wagner. Viele Hörer empfinden bei dieser Stelle nur Angst und Schrecken. Die Musikwissenschaftlerin Susan McClary assoziiert dabei einen Sexualmord, „die mörderische Raserei eines Vergewaltigers“. Andere hörten darin eine Ankündigung der deutschen Luftangriffe auf London.
Laienpredigt und Zirkusmusik
Aber alles steht und fällt mit dem vierten Satz. Dass in einer Sinfonie Gesangsstimmen verwendet werden, stieß anfangs auf viel Irritation. Überhaupt waren die ersten Rezensenten von der Neunten keineswegs so begeistert wie das Wiener Premierenpublikum. Es war von „großer Verirrung“ und „fehlendem Genius“ die Rede. In späteren Jahrzehnten gab es auch Vorschläge, die Instrumentierung zu „verbessern“ oder das Werk durch Lichtbilder aufzuwerten. Meistens störten sich die Kritiker an der Idee und Ausführung des Schlusssatzes. Hanslick nannte sie „unschön“, Adorno immerhin „fragwürdig“. Ein früher Rezensent fand bereits das Einleitungs-Drama mit den brummenden Kontrabässen „grotesk“ und den Text der einsetzenden Bassstimme „prosaisch“, „trivial“ und unpassend.
Dass sich dann aber das schlichte „Song-of-Joy“-Motiv im Lauf der folgenden 20 Minuten zur hysterischen Humanitäts-Massenmesse steigert, dass auch eine „Zirkusmusik“ mit Marschrhythmen und Janitscharen-Perkussion einsetzt, dass Schillers Verse ins expressive Extrem-Pathos getrieben werden, dass die Sopranistinnen zur Schrei-Folter gezwungen sind und das Ganze zwischen „Laienpredigt“ und „Bakchanal“ changiert, hat mancher Musikfreund nicht akzeptieren können. Louis Spohr, der auch die ersten drei Sätze nicht besonders mochte, fand den vierten „monströs und geschmacklos“. David Friedrich Strauß schrieb 1853: „Diesen Schlusschor halte ich für das Platteste in der ganzen 9. Sinfonie.“ Besonders über Beethovens großspurigen Umgang mit Schillers Gedicht haben sich viele gewundert. Nietzsche nannte ihn „inkongruent“, Spohr „trivial“. Es gab Rezensenten, die den entfesselten Gesang eher als teuflischen Hohn auf die Menschenfreude empfanden oder gar als Kritik an Schiller. Debussy sprach Beethoven sogar jegliches literarische Gespür ab. Spohr attestierte ihm den völligen Mangel „an ästhetischer Bildung und Schönheitssinn“. Armer Beethoven.
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