In den Siebzigerjahren des vergangenes Jahrhunderts gab es in Bayreuth noch einen eigenen Dirigenten für den Vorhang: Gilbert Graf Gravina, ein Enkel des Festspielgründers, sorgte für das exakte, der Partitur adäquate Öffnen und Schließen des Hauptvorhangs. Nach dem Tode dieses Dirigenten wurde auf diesen Teil des Wagnerschen Gesamtkunstwerks weniger Wert gelegt, ja sogar der Wagnervorhang für einige Jahre ausgebaut.
Seit einigen Jahren bemüht man sich wieder um Kongruenz zwischen Vorhang und Musik. Doch wenn sich beim „Ring“ der Vorhang mustergültig langsam senkt, um mit dem Verklingen der Musik den Höhe- und Schlusspunkt gemeinsam zu erreichen, hält Dirigent Christian Thielemann den letzten Akkord noch über Gebühr lang aus. Ein kleines, aber deutliches Symptom für das Primat der Musik über die Szene, das dieser Dirigent – im Gegensatz zur Maxime Richard Wagners – für sich manifestiert.
Auch im vierten Jahr ließ sich die „Ring“-Inszenierung des Dramatikers Tankred Dorst unter der Mitarbeit von Ursula Ehler nicht sonderlich verbessern. Gleichwohl war erstmals an einigen Stellen eine differenzierte Personenführung spürbar, die jedoch das Ungenügende der Lesart noch deutlicher hervortreten lässt. Seine Sicht auf die Tetralogie als eine Reibung heutiger Menschen mit den parallel vagierenden, prähistorischen Göttern an heutigen Schauplätzen – eine literarische Idee, deren Wurzeln über Kleists „Amphitryon“ bis zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ zurück reichen – bleibt papieren. Die Parallelwelten der archaisch gewandeten Götter und der Menschen unserer heutigen Arbeits- und Freizeitspaßgesellschaft bieten keine Schnittpunkte, Sie wirken aufgesetzt und störend, bestenfalls noch wie ein Versehen, etwa wenn während der Waltrauten-Szene ein Sprengtechniker auf die Bühne kommt und seine Markierungen in Brünnhildes Felsensaal setzt.
Inhaltliche Ungereimtheiten der Haupthandlungsebene – etwa die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Goldes, historische Prunksammlung in Nibelheim und goldgewirkte Leichtmatten beim Freikaufen Freias – blieben bestehen. Andere Diskrepanzen wurden noch gesteigert, etwa die Reibung der künstlichen Busen der Rheintöchter und der echten Nacktheit einer höfischen Kurtisane in derselben Szenerie der „Götterdämmerung“.
Entgegen Richard Wagner, der das Primat der Szene über die Musik für sein Theater gefordert hatte, entsprach es offenbar der Absicht des Dirigenten Christian Thielemann, einen möglichst schwachen Partner als Regisseur zu haben, wodurch die Vorherrschaft der musikalischen Leitung unangefochten dominieren sollte. Aber der Dirigent hat mit dem in Bayreuth unsichtbaren, das Publikum weder durch die sichtbare Erzeugung der Musik noch durch die Lichteinwirkung der Pulte störenden, eben verdeckten Orchester nur einen Pyrrhussieg erringen. Denn wirklich spannend wird Wagners Musikdramatik durch die dialektische Reibung von Szene und Musik. Erst dann kann sich das Musikdrama zum großen Gesamterlebnis steigern, und das blieb beim „Ring“ aus.
Bei den Solisten siegen stimmlich die Nachtalben – Andrew Shore als Alberich und Hans-Peter König als Hagen – über die Lichtalben die großenteils auch noch andere Rollen übernehmen. Albert Dohmens Wotan gurgelt in der Tiefe und klingt in der Höhe angestrengt; auf Alberichs Frage „So heischt, was ihr begehrt!“, blieb er stumm. In der „Walküre“ sorgte er für einen argen Schmiss, die Wanderer-Partie liegt ihm hingegen besser. Mihoko Fujimura als „Rheingold“-Erda brillierte mit Piani, ihre Kollegin Christa Mayer im „Siegfried“ (auch Waltraute in der „Götterdämmerung“) verfügt über eine geringere Ausdrucksskala. Neu auf dem Hügel, vermag Ain Aigner als Fafner mit profundem Bass und mit mustergültiger Diktion zu dominieren.
Der mit seinem S-Fehler die Partie des Siegmund unfreiwillig parodierende Endrik Wottrich hat mit Eva-Maria Westbroek eine ausgezeichnete Sieglinde zur Seite. Wolfgang Schmidt, der langjährige Bayreuther Siegfried-Darsteller ist als Mime zurückgekehrt: bei der zwangsläufig mitgelernten Partnerrolle, die er mit beißendem Charaktertenor gibt, hat er aber noch einige Textfehler auszumerzen.
Ralf Lukas überzeugt als eigenwillig pointierter Gunther mehr denn als Donner, Edith Haller ist als Freia, 3. Norn und Gutrune zu gleichförmig.
Trotz großem Volumen und einigen seltenen Piani, jedoch mangelnder Diktion, vermag Linda Watson als Brünnhilde nicht voll zu überzeugen.
Christian Franz ist der neue Siegfried, der sich nach dem Tod Mimes seiner Einsamkeit bewusst wird und dem Ziehvater nachtrauert, und der sich nach dem zerspalten des Speers auch über die Ähnlichkeit des Wanderers mit sich selbst wundert. Von der Regie im zweiten Aufzug der „Götterdämmerung“ als Tölpel und Lachnummer dargestellt, produzierte er bei der Waldvogelerzählung einen Schmiss und verschluckte in der Sterbeszene die Endsilben. Dies brachte ihm einige Buhrufe ein; dass er dafür dem Publikum den Vogel zeigte, ist nicht hinzunehmen.
In der „Götterdämmerung“ überzeugt der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor. Nicht immer ganz so sauber ist das Festspielorchester, das nun zum Applaus wieder auf der Bühne erschien. Nach Siegfrieds arg strapaziertem Versuch, den Waldvogel auf dem Rohr (hier einer vom Baum geschnittenen Panflöte!) nachzuahmen, hätte er auch beim anschließenden Hornruf „Das tönt nicht recht!“ konstatieren müssen, so misslungen war das berühmte Hornsolo.
Sieht man ab vom „Markenzeichen“ Thielemanns, den sich häufenden, vom Komponisten nicht vorgesehenen Spannungspausen, tönt es zumeist arg beliebig aus dem nicht immer bestens disponierten Orchester. Erst für die Martialik der Walküren und dann für die ausschließlich von männlichen Stimmen getragenen ersten beiden „Siegfried“-Akte gewinnt Thielemanns Dirigat an Spannung. Eine weitere Steigerung erfolgt mit der „Götterdämmerung“, in der er die dunklen und gewalttätigen Passagen der Partitur hervor kehrt. Im Trauermarsch forciert er die Paukenschläge und verbreitert die Synkopen. Dem gegenüber bleibt der Erlösungsschluss der Tetralogie musikalisch wie szenisch spannungslos.
Der hysterische Jubel einiger Damen beim Auftauchen Thielemanns vor dem Vorhang schon nach den ersten „Ring“-Abenden erinnert fatal an ähnliche Szenen vor dem Festspielhaus, rund siebzig Jahre zuvor, wie sie im Film festgehalten sind; auch hier scheint Brechts Spruch zuzutreffen „Der Schoß ist fruchtbar noch...“
Insgesamt wirkt diese „Ring“-Produktion – trotz mancher neuer Bewegungsabläufe in der Personenregie – gestrig und abgestanden.