„Das Theater besteht ja nur aus verwirklichten Träumen“ hat einst Max Reinhardt festgestellt. Als „bescheid’ne Dienerin“ dieser Traum-Kunst sieht sich Adriana Lecouvreur auf der Opernbühne – ein getreues Abbild der historischen Adrienne, der aufgrund ihrer ungespielten Natürlichkeit als Mensch, mehr noch wegen ihrer faszinierenden Bühnenwirkung ab 1717 in der Comédie-Française allabendlich über 1000 Menschen zujubelten: gekrönte Häupter und Kunstfreunde.
Sie muss durch die unpathetische Expression ihrer eminenten inneren Erlebnisfähigkeit bezaubert und hingerissen haben: „Ich singe meine Seele“ hat Francesco Cilea ihrer Opernschwester deswegen in einer kongenialen Arie komponiert – und zu diesen Tönen muss Theaterzauber die Realität transzendieren, zu einer Ahnung jenes „Mehr als…“, das wir als Illusion, Ahnung oder Hoffnung in uns tragen. Das sollte ein Bühnenteam realisieren. Und da die historische Adrienne, in eine leidenschaftliche Beziehung zu Moritz von Sachsen verstrickt, mit nur 37 Jahren starb, rankten sich bald dramatische Gerüchte: vergiftet durch die eifersüchtige Herzogin von Bouillon… kurz: ein Stoff für Drama und Oper, für Sarah Bernhardt, Eugène Scribe und eben Cilea.
Dass Frankfurts Intendant Bernd Loebe sich für Vincent Boussard (Regie) und Christian Lacroix (Kostüme) entschied, ließ eine vordergründige Ausstattungsorgie befürchten. Doch hier geht es um französische Kulturheiligtümer und da auch Bühnenbildner Kaspar Glarner in Paris lebt, machte dieses „francophile“ Team eingehende Studien in und um die „Comédie“. Auch der deutlich begrenzte Frankfurter Etat zeigte zusätzliche Wirkung: Phantasie und Bühnenzauber blühten auf. Historisierend „echte“, aber dann auch durchsichtig „illusionäre“ Garderobenwände der „Comédie“, hinreißend bombastischer Kostümzauber aus Reststoffen (ein „Bravi“ für Lacroix und die Werkstätten!) und ein bühnenbreiter Spiegel im Hintergrund, der den Zuschauerraum und das Publikum immer wieder in die Theaterauftritte der Bühnenhandlung scheinbar real, aber eben doch illusionär mit einbezog.
Zusätzlich griff Regisseur Boussard über die differenzierte Personenregie für die Solisten auch ins wahre Leben: statt der damaligen Aristokratie stand das heutige „Finanz-Gesindel“ in edelster, durchgängig schwarzer Haute Couture im Andy-Warhol-Ambiente auf der Bühne, „Star-geil“ wie eh und je – bestechend, dass etwa der Herzog von Bouillon von Federico Sacchi eine Mischung aus Prousts Herzog von Guermantes und dem jungen Michel Piccoli war. Hier wie umfassend gelang der theatralische Brückenschlag von Gestern ins Heute, von Realität in Bühnenzauber.
Musikdramatisch ist Cileas hinreißende Italianitá eigentlich ganz einfach: man braucht nur die vier weltbesten Rolleninterpreten, wie sie die bis heute unerreichte Referenz-Aufnahme von 1959 mit Olivero-Corelli-Simionato-Bastianini vereint. In Frankfurt überragte Tanja Ariane Baumgartner als eifer- und rachsüchtige Prinzessin Bouillon mit leidenschaftlichen Mezzo-Tönen das bis in die Nebenrollen bestechende Ensemble.
Davide Damiani beeindruckte mit herrlich warmem Bariton als Adrianas väterlich verliebter Mentor Michonnet. Franz van Aken glaubte man vor allem den Haudegen Moritz von Sachsen, weniger den tenoral eleganten Herzensbrecher. Micaela Carosi brachte für die höchst anspruchsvolle Titelrolle zwar oft die die Präsenz einer realen wie darzustellenden Bühnenkünstlerin mit, doch ihr Sopran blühte nicht ganz so, wie die Emotionalität von Cileas ariosen Linien es wünschen lässt. Dafür entfachte Dirigent Carlo Montanaro immer wieder italienisches Theaterfeuer, so dass die echten wie die theatralisch illusionären Leidenschaften blühten. Am Anfang und am Ende ging der alte Voltaire, der Adrienne geschätzt hat und mit einer Elegie tief betrauerte, durch die Kulissen – ein Abend mit und über Theater, der bildlich und musikalisch nachwirkt, über den einhelligen Jubel hinaus.