„Kultur macht stark“: Unter diesem Motto stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2013 über einen Zeitraum von fünf Jahren bis zu 230 Millionen Euro zur Verfügung, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen Zugänge zu kultureller Bildung zu eröffnen. 35 bundesweit aktive Verbände und Initiativen wurden von einer unabhängigen Jury ausgewählt, um die Gelder an lokale „Bündnisse für Bildung“ weiterzugeben.
Auf die anfängliche Begeisterung der glücklichen Auserwählten folgte alsbald Ernüchterung, erwies sich das Programm doch für viele als kaum zu bändigendes bürokratisches Monster. Beim Deutschen Chorverband (DCV), der für sein Konzept SINGEN.Bündnisse als einer der ersten den Zuschlag erhalten hatte, führte eine lange schwelende Auseinandersetzung mit dem Ministerium Anfang April zur Eskalation: Nachdem das BMBF schon im Juli 2014 einen Zahlungsstopp verhängt und im März den Zuwendungsbescheid widerrufen hatte, reichte der DCV Klage beim Verwaltungsgericht Köln ein.
„Es ist vor allem Fassungslosigkeit und Wut“, sagt Iris Wolter, die das SINGEN.Bündnis der „Ginnheimer Spatzen“ ins Leben gerufen hat. Fassungslosigkeit und Wut, weil das Projekt, in das sie so viel Zeit und Kraft gesteckt hat, das Anerkennung von allen Seiten, von der örtlichen Grundschule, dem Pfarrer, den Kommunalpolitikern, erfährt, nicht förderungswürdig sein soll.
Die „Ginnheimer Spatzen“, das war ursprünglich eine kleine Truppe aus dem Umfeld des TSV Ginnheim 1878, die in Seniorenheimen Kinderlieder zum Playback sang; inzwischen stemmen 55 Kinder und Jugendliche ihre dritte große Musical-Produktion. 12 von ihnen leben im Flüchtlingsheim Alt-Oberliederbach, viele andere haben im ethnisch bunten Stadtteil Frankfurt-Ginnheim einen Migrationshintergrund. Derzeit erarbeiten die „Spatzen“ das Musical „In 80 Tagen um die Welt“, mit Liedern auf Chinesisch, Spanisch, Französisch, Englisch, Italienisch, Polnisch, Ägyptisch, Hocharabisch und Deutsch. An den Dekorationen werkeln die Darsteller selbst, tatkräftigt unterstützt von Eltern und großen Geschwistern.
„Einige Kinder erleben ihre Mütter aufgrund ihrer Sprachdefizite oft als unsicher und auf den häuslichen Bereich begrenzt“, sagt Iris Wolter. „Auf einmal sehen sie, wie eine großartig singt, tanzt, Kostüme näht, übersetzt. Es ist ein richtiges Familienprojekt geworden, das finde ich so toll!“ Als die zugesagten Gelder im Sommer 2014 ausblieben, bezahlte sie die Jugendherberge für die längst geplante Sommerfreizeit erst mal aus eigener Tasche; die Nachricht vom endgültigen Finanzierungs-Aus traf sie im November wie ein Schlag. Entmutigen ließ sie sich nicht: Mit Spenden der Eltern und Unterstützung des Bistums Limburg sowie der Frankfurter Citoyen-Stiftung hält sie das Projekt bislang am Leben. „Aber es kostet unendlich viel Kraft!“ Manchmal sitzt sie bis nachts um zwei an neuen Anträgen. „Das Emotionale ist ganz schlimm“, findet die dreifache Mutter. „Wir fragen uns: Was haben wir falsch gemacht, warum lässt man uns mit den Kindern im Regen stehen?“
Solche Fragen stellen sich derzeit viele: Insgesamt fast 200 SINGEN.Bündnisse mit 15.000 Kindern und Jugendlichen sind vom Förderstopp betroffen, hunderte von Musikpädagogen, Chorleitern, Ehrenamtlichen und Vereinen warten auf fest vereinbarte Honorare oder bleiben auf Mietkosten und Sachausgaben sitzen. Der DCV habe die Ziele des Programms nicht beachtet, heißt es aus dem Ministerium, das zudem gravierende administrative Mängel feststellt. Berechtigte offene Forderungen der lokalen Bündnisse will das BMBF zwar auszahlen, seine Verwaltungskosten von inzwischen mehr als 350.000 Euro soll der Verband aber selbst tragen, die bereits geflossenen Gelder zurückerstatten.
Dabei schien der DCV, mit mehr als 22.000 Mitgliedsvereinen fest im lokalen Kulturleben der Republik verwurzelt, geradezu prädestiniert für das Programm. Dieses verfolgt eine doppelte Zielrichtung: zum einen Kinder und Jugendliche, die nach dem Nationalen Bildungsbericht 2010 als bildungsbenachteiligt gelten, an Kunst und Kultur im weitesten Sinne heranzuführen; zum anderen bürgerschaftliches Engagement zu stärken, indem sich mindestens drei unterschiedliche Partner – etwa Vereine, Jugendzentren, Kirchengemeinden, Theater, Bibliotheken, Nachbarschaftshäuser – zu einem Bündnis zusammenschließen. Eine Crux dabei: Schulen und Kitas dürfen zwar Bündnispartner, aber als solche nicht federführend sein, denn „Außerschulischkeit“ der Maßnahmen ist ein wichtiges Kriterium; anderes lässt das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich nicht zu. Ein anderer Stolperstein: Um nicht zu stigmatisieren, soll die Benachteiligung der Kinder und Jugendlichen nicht im Einzelfall überprüft werden; vielmehr dienen die sozialräumlichen Gegebenheiten als Maßstab, indem Projekte beispielsweise in Brennpunktvierteln oder in Zusammenarbeit mit Jugendzentren stattfinden – ein reichlich schwammiges Kriterium angesichts der Bedeutung, die diesem Aspekt beigemessen wird. Über die Einhaltung solcher und anderer Bestimmungen der Förderrichtlinie wacht im Auftrag des Ministeriums der sogenannte Projektträger, der dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt angegliedert ist.
Was die Gestaltung der Maßnahmen betrifft, so sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt, ob nun junge Leseratten als „Literanauten“ eher bildungsferne Gleichaltrige neugierig auf Bücher machen oder Jugendliche aus „Problemvierteln“ die Lebenswirklichkeit von Einwanderern erforschen und öffentlich präsentieren. Der DCV hat mit seinen SINGEN.Bündnissen ein Konzept entwickelt, nach dem Drei- bis Zwölfjährige „über das Kulturgut Singen persönlich, aktiv und interaktiv kulturelle Bildung erfahren“ sollten. Überzeugend, befand die Jury unter der Leitung des ehemaligen nordrhein-westfälischen Kulturstaatssekretärs Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, und traute dem DCV ohne weiteres zu, die bewilligten Mittel von bis zu 10 Millionen Euro zu verwalten.
Wie es dann zu der verfahrenen Situation kam, die in der Klage des DCV beim Verwaltungsgericht Köln gipfelte, lässt sich gar nicht so leicht rekonstruieren. Fakt ist: Im März 2014 erhielten die Chorleute in ihrer Berliner Geschäftsstelle erstmals Besuch von Mitarbeitern des Projektträgers. Es wurden Projekte stichprobenartig geprüft, man befand, das Erreichen bildungsbenachteiligter Jugendlicher und die Durchführung der Maßnahmen außerhalb des Schulunterrichts seien nicht gewährleistet. Auf die Stellungnahme und einen Zwischenbericht des Chorverbands zum ersten Projektjahr folgte im Juli 2014 postwendend die vorläufige Zahlungssperre, im September ein weiterer Prüftermin. „Es gab keinerlei Kommunikation“, sagt Veronika Petzold, Geschäftsführerin des DCV und Projektleiterin der SINGEN.Bündnisse. „Es ging darum, Argumente oder Beweise zu sammeln, ohne dass man miteinander nach Fehlern und Justiermöglichkeiten gesucht hätte.“ „Unser Referat ist sehr früh auf die Geschäftsstelle des DCV zugegangen“, sagt Kornelia Haugg, die zuständige Abteilungsleiterin im BMBF. „Wir haben versucht, gemeinsam mit dem Chorverband zu einer Lösung der Probleme zu kommen. Es hat viele Gespräche auf verschiedenen Ebenen gegeben, Besuche und Beratungen in der Geschäftsstelle des Chorverbandes, Telefonate und E-Mails. Das Hauptproblem bestand darin, dass das Ziel des Programms nicht beachtet wurde. Wir haben das Programm ‚Kultur macht stark‘ ins Leben gerufen, um einen gezielten Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit zu leisten. Wir wollen, dass auch Kinder, die es schwerer haben, die Chance bekommen, sich mit kulturellen Angeboten wie Kunst, Musik, Theater, Tanz oder Literatur zu beschäftigen. Der Chorverband hat keine erkennbare Strategie entwickelt, um Kinder und Jugendliche zu erreichen, die sonst nicht die Chance haben, solche Angebote wahrzunehmen.“ Offensichtlich gab es da ein massives Kommunikationsproblem; die Leidtragenden sind die SINGEN.Bündnisse. Denn im März 2015 ging dem DCV der Widerruf des Zuwendungsbescheids zu – ein Dreivierteljahr, nachdem die Auszahlung der bewillig-ten Gelder gestoppt worden war.
„Ein politischer Skandal“, wettert Henning Scherf, ehemaliger Bürgermeister von Bremen und Präsident des DCV. „Hier zerstört die ministeriale Bürokratie mit nicht nachvollziehbarer Hinhaltetaktik wertvolles bürgerschaftliches Engagement.“
Keine Frage: Mit dem Enthusiasmus engagierter Kulturschaffender und dem Paragraphendschungel der Bundeshaushaltsordnung prallen zwei Welten aufeinander. „Uns ging es darum, einerseits das Geld zu verwalten und zu verantworten, andererseits aber die Rahmenbedingungen immer noch menschlich und machbar zu gestalten“, erklärt Veronika Petzold. „Und in diesem Widerspruch haben wir uns mit dem Ministerium nicht in den Armen gelegen, sondern eher in den Haaren.“
Dass die Verwendung von Steuermitteln kontrolliert werden muss, steht außer Frage. Viele Verbände beklagen indessen, dass sie in der Verwaltung zu ersticken drohten. Die Kurzfassung des Benutzerhandbuchs für die eigens entwickelte Datenbank, die zwingend für die gesamte Abwicklung der einzelnen Projekte, von der Antragstellung bis zum Verwendungsnachweis, genutzt werden muss, umfasst 78 Seiten. Und der Beratungsaufwand, um den im Zuwendungsrecht meist unerfahrenen Akteuren vor Ort die Spielregeln zu vermitteln, ist enorm. „Natürlich müssen Kriterien und Formalia eingehalten werden, um Programmziele zu erreichen“, meint Kerstin Hübner von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, „Aber es braucht ein Maß für die Menschen auf der lokalen Ebene.“
Zwar wurden einige bürokratische Hürden inzwischen abgebaut; so erhalten die lokalen Bündnisse eine Verwaltungspauschale, und die Verbände müssen nicht mehr ausnahmslos jeden Beleg der einzelnen Projekte prüfen. Dennoch bleiben zahlreiche Baustellen. Für Irritation sorgt vielerorts auch, dass „Förderkriterien im Laufe der Zeit immer wieder nachjustiert, präzisiert oder umformuliert wurden“, wie Dirk Mühlenhaus vom Verband deutscher Musikschulen erklärt. So manches Projekt musste gewissermaßen im Galopp die Pferde wechseln. Und dann ist da noch das leidige Problem mit der „Außerschulischkeit“: Nirgendwo sonst wäre es so einfach, bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen, wie in Schulen. Aber dem Ministerium klingelte der zu erwartende Aufschrei der Länder wohl schon im Vorfeld in den Ohren, so dass man sich mit umständlichen Definitionen absicherte. Dieser Punkt habe auch die Jury beschäftigt, sagt Olaf Zimmermann, als Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats einer der Juroren. Er sieht hier ein weiteres Argument dafür, das vielfach kritisierte Kooperationsverbot, das die Länder 2006 im Grundgesetz verankert haben, „endlich“ abzuschaffen.
Überhaupt könnten die Erfahrungen mit „Kultur macht stark“ Denkanstöße geben: Wege zu finden, wie sich Zuwendungsrecht und ehrenamtliches Engagement besser zur Deckung bringen lassen; leicht zugängliche Verwaltungsinstrumente zu entwickeln; über mögliche Strukturen der Kulturförderung aus Bundesmitteln nachzudenken.
Denn trotz aller Kritik: Die Segnungen dieser bislang größten Kulturfördermaßnahme des Bundes stellt kaum ein Verband in Frage. Millionen sind in Projekte geflossen, die ansonsten nicht entstanden wären, rund 300.000 überwiegend bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche hat das Programm nach Angaben des BMBF erreicht. Es scheinen sich, so der derzeitige Eindruck, durchaus tragfähige lokale Netzwerke gebildet zu haben. Auch Iris Wolter, die Initiatorin der „Ginnheimer Spatzen“, hält „Kultur macht stark“ nach wie vor für eine gute Idee – und wünscht sich, es wäre nicht zu der Auseinandersetzung gekommen. „Ich habe das Gefühl, dass tonnenschwere Gewichte auf meinen Schultern lasten“, sagt sie, „denn wenn ich den Kindern sagen müsste, dass es das Projekt nicht mehr gibt, wäre das ganz schlimm. Es wäre so schön gewesen, wenn man einfach im Sinne des Konzeptes hätte weitermachen können.“