Vielfältige schöpferische Assoziationen weckt das Motto „Licht“, das zeigte sich auch beim diesjährigen Musikfest Stuttgart. Nicht zuletzt wurde mit einem Psalmenwochenende eine religiöse Brücke geschlagen, allerdings mit zwiespältigem Ergebnis. Dabei war die Idee spannend und wichtig: Martin Smolka, Brice Pauset, Jaakko Mäntyjärvi, Joseph Phibbs und Victoria Borisova-Ollas hatten Psalmen vertont, die schon Felix Mendelssohn Bartholdy verwendet hatte, und würdigten damit zugleich dessen 200. Geburtstag.
Doch es ist schon befremdlich, wenn sich ein Komponist als „eklektischen Traditionalisten“ bezeichnet und sich zugleich offen über Zwölftonmusik lustig macht. Mäntyjärvi hat damit keine Probleme. Wie der finnische Chorleiter, Übersetzer und Linguist während einer Einführung bemerkte, erinnere ihn das Toben der Heiden aus Psalm Nr. 2 an das Toben der Dodekaphonisten. Und so kam es, wie es kommen musste: In Mäntyjärvis Vertonungen der Psalmen Nr. 2 („Warum toben die Heiden“) sowie Nr. 43 („Richte mich, Gott“) und Nr. 22 („Mein Gott, warum hast du mich verlassen“) für achtstimmigen gemischten Chor a cappella tönte eine durchaus epigonale madrigalistische Arbeitsweise.
Glocken läuten die einzelnen Abschnitte ein, bieten Intonationshilfen für die Sänger und sollen die Atmosphäre verdichten. Die Ideen nutzten sich schnell ab. Weil jedoch am selben Abend „Furcht und Zittern“ (Psalm Nr. 95) für drei Solisten, Chor und Orchester von Pauset uraufgeführt wurde, erwuchs ein aufregender Glaubensdiskurs. Während nämlich der gläubige Mäntyjärvi findet, bleibt der Franzose, der erstmals ein religiöses Werk schuf, ein Sucher: Er wisse nicht, ob er religiös sei oder nicht, so Pauset. Und so wechseln sich Geräuschhaftes, kleinste Tonpartikel und große virtuose Gesten ab, der Chor singt einzelne Buchstaben und betont vornehmlich Konsonanten – als ob sich das Wort nicht vermitteln könne.
Denn hier thront nicht das Wissen, sondern zweifelt der Mensch: Pauset schuf ein zutiefst authentisches Bekenntnis, was der Stuttgarter Kammerchor, Cantus Stuttgart sowie Dominik Wortig (Tenor), Muriel Schwarz und Judit Scherrer-Kleber (Sopran) unter Jörg-Hannes Hahn intensiv verlebendigten. Doch so unterschiedlich Pauset und Mäntyjärvi auch sein mögen, die Entfremdung haben sie gemein – freilich unter anderen Vorzeichen. Erscheint nämlich bei Pauset der Mensch vom Glauben entfremdet, so flüchtet Mäntyjärvi vor der Gegenwart in eine Art Heilmusik.
Eine nicht minder berührende Suche präsentierten zudem das SWR Vokalensemble und die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Marcus Creed mit dem Psalm Nr. 114, den der Tscheche Martin Smolka für Chor und Orchester gesetzt hat. Schon im einleitenden „In exitu“ wird die Grundidee deutlich: Noch werden Akkorde gegeneinander aufgeschichtet, stets den wohltemperierten Dreiklang heraufbeschwörend, bis endlich Chor und Orchester im fragilen Piano in weit atmende Sphären tauchen, in denen das Klanglicht schimmert. Derart existenzielle Fragestellungen suchte man in den Vertonungen des Psalms Nr. 98 („Singet dem Herrn ein neues Lied“) durch den Briten Phibbs sowie des Psalms Nr. 42 („Wie der Hirsch schreit“) durch die Russin Borisova-Ollas vergeblich.
Vielfach blieb es bei dekorativer, post-postmoderner Ästhetik, wobei Phibbs überdeutlich an Benjamin Brittens romanophile Melodik anknüpfte: Er ist Leiter der Stiftung „Britten Estate“ und hat sich als Herausgeber um Brittens Schaffen verdient gemacht. Letztlich bestätigte Phibbs jene Klischees, die von der britischen Gegenwartsmusik kursieren, und Ähnliches ließe sich über Mäntyjärvis finnischen Übertraditionalismus oder Pausets Ansätze des französischen Spektralismus feststellen. Dafür aber wurde eine große schöpferische Vielfalt geboten, die noch vielfältiger hätte sein können, wenn Adriana Hölszky mit ihrer Vertonung fertig geworden wäre.