Es geht um Ost-West-Konflikte, unterschiedliche Lebens- und Politikstile in Orient und Okzident: einem wie selbstverständlich erscheinenden Überlegenheitsdünkel der Westler steht mit Bassa Selim ein Musterexemplar des aufgeklärten „edlen Heiden“ gegenüber. Da wundert nicht, daß „Die Entführung aus dem Serail“, deren Text auf das Libretto von Christoph Friedrich Bretzner zur 1781 in Berlin uraufgeführten Operette „Belmont und Constanze oder Die Entführung aus dem Serail“ von Johann André zurückgeht und für den jungen Mozart in Wien von Johann Gottlieb Stephanie arrangiert wurde, seit langem einer Deutungsvielfalt unterliegt.
Der Kiosk am Eingang der Schanzenstraße demonstriert die Integration der Neu-Kölner „mit Migrationshintergrund“ in die vorweihnachtliche Domstadt. Früher ging es hier zum Draht- und Elektrogerätehersteller Felten & Guilleaume. Dessen Carlswerk liegt im Dunkel. An ihm vorbei führt der gewundene Weg ins Vergnügungsquartier von Mülheim, zum hell erleuchteten E-Werk mit seinen elektrifizierten Konzerten, zum Erlebnisbezirk der Harald-Schmidt-Show und zum Palladium. Im Hinterland dieser Beglückungsmeile hat die Oper Köln die Hilfstruppen für das Singspiel von 1782 ausgehoben. Das macht die Bauchtanz-Andeutungen der „Statisterie der Bühnen Köln“ recht authentisch. Die umsichtigen Schließerinnen und Garderobieren sprechen mit türkischem oder arabischem Akzent.
Das ausgedünnte Gürzenich-Orchester wird von Konrad Junghänel zu virbratolosem energischem Spiel angehalten. Schön hell und nur ein bisschen schrill klingelt die Janitscharenmusik. Intensives Espressivo unterstreicht die Momente der drohenden Martern und der Liebeszweifel. Die Musiker sitzen ebenerdig. Dadurch werden sie, wie zuletzt auch bei Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ im Gerling-Quartier, zu einem Teil des theatralen Geschehens erhoben. Das Sehen und Gesehen-Werden befördert die Aufmerksamkeit.
Auch wenn Olesya Goloneva über keine große Stimme zu verfügen scheint – im Rahmen dieser Halle sitzt sie hervorragend; das Volumen ist ausreichend und die Wirkung der großen Arien begeisternd. Der Spieltenor Brad Cooper nimmt den Belmonte, der einem aus dem Westen gelieferten großen Panasonic-Karton entsteigt, erfreulich leicht, Anna Palimina und John Heuzenroeder überzeugen als glänzend agierendes Buffo-Pärchen (Blonde und Pedrillo).
Das Landhaus des Bassa Selim, der hartnäckig kurdisch spricht, liegt – schwer von Erdbeben heimgesucht – hinter drei Blechrolläden und offensichtlich im heutigen Kurdistan (also irgendwo in der Grenzregion von Iran, Irak und Türkei). Ihsan Othmann nimmt sich aus wie ein jüngerer Bruder des Cavaliere Berlusconi – genauso feist grinsend und nicht minder populistisch gestikulierend. Wenn dieser potente Geschäftsmann sich niederläßt, beeilen sich die ihn umgebenden Damen, den Tschador fallen zu lassen. Die Wachen und Kistenträger sehen aus wie Bilderbuch-Taliban.
Uwe Eric Laufenbergs Zubereitung des Singspiels entwickelt mit genauer Personenführung und Liebe zum Detail heiter-hurtigen Klamauk. Vor der von Osmin bewachten Tür zum Harem (da knattert die automatische Waffe zum ersten Mal), auch in der weiteren Auseinandersetzung zwischen den Westeuropäern und dem Oberaufseher, insbesondere in der Trinkszene und beim nächtlichen Aufbruch zur Flucht: alle Damen des Bassa haben rasch gepackt und wollen mit. Die von den Autoren und ihrem kaiserlichen Auftraggeber, dem großen Reform-Kaiser Joseph II., möglicherweise doch etwas tiefgründiger angelegte Entführungs- und Gnadengeschichte wird von Laufenberg strikt als halbwegs aktuelle Kolportagestory erzählt – der Aufklärungs-Hintergrund des Werks bleibt ausgeblendet, die Erlösungsverheißung für Konstanze und Blonde wird nicht problematisiert. Und in unerreichbarer Ferne bleibt am Horizont des Heiteren der Gedanke, daß Entführungen, wenn man sie denn erleiden muß, vielleicht gar nicht so lustig sind. Die für Konstanze vorbereitete Steinigung folgt dem Muster des Monty Python-Films „Life of Brian“, erweist sich dann aber als Scheinhinrichtung. Vielleicht finden das manche auch lustig.
Auf Übertitelung wurde verzichtet. So geriet das Ganze hinsichtlich der möglichen religiösen Empfindlichkeit islamischer Zuschauer wohl politisch korrekt. Textpassagen wie das „Drum beim Barte des Propheten“ blieben unterhalb der Hörgrenze, können also keinen Anstoß erregen. Vielleicht lag die Unverständlichkeit auch daran, daß der komödiantisch hoch talentierte Wolf Matthias Friedrich im tieferen Register sehr leise singt und gar nicht mehr geben könnte. Auch das wäre ja im Sinne des multikulturell konzipierten Ganzen eine glückliche Fügung. Daß der robuste Repräsentant des muslimischen Orients kurz vor Schluss alle mit seiner Maschinenpistole niederstreckt, um ihnen zum lieto fine die Auferstehung zu ermöglichen, sollte nicht als theatrale Auseinandersetzung mit dem Terrorismus genommen werden, sondern als Betriebsunfall – unabhängig vom Humorwert von Ballereien auf der Musikbühne.