Einen solchen Andrang an der Abendkasse erlebt die Stuttgarter Liederhalle bei klassischen Konzerten sonst nicht. Am Mittwochabend war in der Kassenhalle zum Beethovensaal erst einmal Warten angesagt beim rasch ausverkauften Benefizkonzert für die Opfer der Natur- und Atomkatastrophe in Japan, das vier Stuttgarter Orchester in kürzester Zeit auf die Beine gestellt haben. Organisator Max Wagner, Intendant des Stuttgarter Kammerorchesters, hatte seine Kollegen vom Staatsorchester, vom SWR-Radio-Sinfonieorchester und von den Philharmonikern sofort von seiner Idee überzeugen können.
66.292 Euro haben die vier Klangkörper am Ende für die Katastrophenhilfe in Japan erspielt. Die Einnahmen sollen dem Projekt "Second Harvest Japan" zufließen. Es stellt Essen und Saatgut für die Erdbeben- und Tsunami-Opfer vor Ort bereit. Ein Waiblinger Unternehmer, der seit Jahren in Japan lebt und arbeitet, wird persönlich den Transport der Hilfsgüter in die Katastrophengebiete begleiten.
SWR-Talkshow-Eminenz Wieland Backes lobte in seiner Konzertmoderation diese Premiere als "starkes Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls". Viele Japaner sitzen schließlich in den Reihen hiesiger Orchester, und alle am Benefizkonzert beteiligen Klangkörper erfahren regelmäßig auf Japan-Tourneen, wie aufgeschlossen und begeistert das dortige Publikum der europäischen Kunstmusik gegenübersteht.
Um die Sprachlosigkeit gegenüber dieser Tragödie apokalyptischen Ausmaßes zu überwinden, darin waren sich die Intendanten einig, könne die Musik einen ganz eigenen Beitrag jenseits der von der Atomkatastrophe entfachten tagespolitischen Debatten leisten. Gar nicht gut kam denn auch im Publikum die Ansprache von Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, dem Schirmherrn der Veranstaltung, an, der bei dieser Gelegenheit rasch noch die Abschaltung des AKWs Neckarwestheim loben zu müssen glaubte und dafür Buh-Rufe erhielt.
Den Konzertauftakt machten die Stuttgarter Philharmoniker mit Schuberts "Unvollendeter". Unter der Leitung von Stefan Vladar sorgten sie für düstere Dramatik und sich immer wieder verdunkelnde Stimmungsumschwünge. Das Stuttgarter Staatsorchester, das als Kammermusikensemble auftrat, weil parallel die Ballettaufführung im Staatstheater zu stemmen war, hatte mit Erwin Schulhoffs Streichsextett von 1924 ein hochexpressives Werk zum Thema Tod ausgesucht: Mal mit grellen, mal mit fahl-vibrierenden Farben bis hin zu kaum hörbaren Schraffuren erspielten sich die sechs Streicher mit hochgespannter Ausdruckskraft eine am Ende äußerst beklemmende Stille. Das Stuttgarter Kammerorchester interpretierte anschließend Sätze aus Mendelssohns Jugendsinfonie Nr. 10 und Mozarts Cassation Nr. 1 mit ungewöhnlicher, aber dem Anlass angemessener Verhaltenheit. Und Wolfram Christ am Dirigierpult verlieh als Solist in Paul Hindemiths Trauermusik für Viola und Orchester ganz individuell formuliertem Leid Gestalt.
Das Radio-Sinfonieorchester in der Leitung von Andrey Boreyko überwältigte abschließend mit einer ausgesprochen packenden Interpretation der beiden letzten Sätze aus Schostakowitschs 1. Sinfonie, in denen sich die für das 20. Jahrhundert typische Ausdruckswelt von unbarmherzig in die Katastrophe führenden Steigerungen, schrillen Klangballungen und weitausholenden Trauergesängen Bahn bricht.
Spenden können weiterhin eingezahlt werden: Stuttgarter Kammerorchester, Stichwort „Japan“, Kontonummer 8049324, BLZ 60050101 bei der BW Bank.
Informationen zum Spendenempfänger: www.2hj.org