Die Insel Gotland würden viele nicht einmal auf einer Landkarte finden, manchen käme vielleicht noch Störtebeker und die Hanse in den Sinn – kaum jedoch zeitgenössische Musik. Aber dieses gemütliche Eiland mit seiner schmucken mittelalterlichen Hauptstadt Visby wird jedes Jahr im Mai zusätzlich zur ewigen Brandung der Ostsee von „Schallwellen“ umspült – so heißt der Name des Festivals „Ljudvågor“ übersetzt. Würde man die Namen der Komponisten aufzählen, die hier gespielt werden, dürfte jedoch auch ein Neue-Musik-Kenner nur ratlos mit dem Kopf schütteln.
Kein Wunder, denn für viele darunter ist es die erste öffentliche Aufführung überhaupt, die da in einem stilechten alten Kino mitten in der Altstadt Visbys vor vollem Saal über die Bühne geht. Aber es spielt ein professionelles Ensemble, „Norbottenneo“ aus Nordschweden unter Leitung von Petter Sundkvist, und jedes Stück wird vom Publikum begeistert aufgenommen.
„Ljudvågor“ ist der Höhepunkt des Studienjahres für die Studenten von „Gotlands Tonsättarskola“, einer einzigartigen Einrichtung, die junge Komponisten auf das Studium an einer Musikhochschule vorbereitet, aber auch „Seiteneinsteigern“ offensteht. 50 Uraufführungen gibt es während des viertägigen Festivals, und es ist für jeden etwas dabei. Völlig aus der Zeit gefallene Neoromantik steht neben eigenständigen und avancierten Ansätzen, Minimalismus und Jazz-Anklängen. Vom Schulabgänger bis zur 40jährigen Familienmutter, vom Dilettanten bis zur Hochbegabung ist ein breites Spektrum an Altersklassen und Fertigkeiten vertreten. „Unsere Bewerber haben sehr unterschiedliche Voraussetzungen“, so Matthias Svensson, Ausbildungsleiter der Schule, „und wir wählen weniger nach formalen und akademischen Kriterien aus, sondern versuchen einzuschätzen, ob die Studenten ein individuelles Entwicklungspotenzial haben, unabhängig von ihren Vorkenntnissen. Wir können auch Bewerber aufnehmen, die es nie an eine Musikhochschule geschafft hätten, und haben Improvisationsmusiker ebenso wie „klassische“ Komponisten unter den Studenten.“
Während des zweijährigen Vollzeitkurses erhalten die pro Jahrgang 10 Studenten für Gebühr von umgerechnet ca. 2.500 € Unterricht in allen für Komponisten wesentlichen Fächern vom Einzelunterricht in Komposition über Notationskunde, Dirigieren, Analyse, Gehörbildung bis zur elektronischen Musik. Neben den sieben festen Lehrkräften werden regelmäßig Gastdozenten eingeladen, darunter auch Residenten des „Visby International Centre for Composers“, das im selben Haus untergebracht ist, einem ehemaligen Zollgebäude direkt am Hafen. Die technische Ausstattung lässt nichts zu wünschen übrig, Bibliothek und Audiothek sind vorhanden und auch ein kulturelles Umfeld: In der Inselmetropole gibt es eine Fachhochschule, das „Baltic Arts Centre“ und weitere künstlerische Einrichtungen in fußläufiger Entfernung. So entsteht eine Mischung aus konzentrierter Abgeschlossenheit und Vielseitigkeit, in der sich die Studenten auch gegenseitig unterstützen und voranbringen. Die Organisation des Festivals, bei dem auch hervorragend präparierte Schüler des Konservatoriums Falun und das professionelle Blasorchester „Gotlandsmusiken“ auftraten, liegt zum großen Teil in ihrer eigenen Verantwortung, so dass sie auf derartige Aufgaben mit vorbereitet werden.
„Zwar haben fast drei Viertel unserer Absolventen haben später an einer Musikhochschule studiert. Trotzdem ist nicht nur die Studienvorbereitung, sondern auch die Weiterbildung ein wichtiges Ziel: Ein Kirchenmusiker oder Musiklehrer, der zu uns kommt, kann hinterher mit vertieften Kenntnissen in Komposition in seinen Beruf zurückkehren. Wir versuchen nicht, die Studenten in eine bestimmte Richtung zu drängen, sondern sie dabei zu unterstützen, einen eigenen künstlerischen Standpunkt zu finden“, so Svensson. Im Internet ist die Schule unter www.gotlandstonsattarskola.com zu finden.