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Im Sommer 1995 übernahm in der Nachfolge u.a. eines Hans Rosbaud und Rudolf Kempe der in New York gebürtige David Zinman (Jahrgang 1936) die musikalische Leitung des renomierten Züricher Tonhalle-Orchesters. Zinman ist spätestens, seit er ab 1985 das Baltimore Symphony Orchestra von Erfolg zu Erfolg führte, keine unbekannte Größe. Zudem verbindet sich sein Name für ein breites und keineswegs ausschließlich klassisch orientiertes, mehrheitlich angelsächsisches Publikum mit dessen Einspielung der dritten Sinfonie von Henryk Gorecki (mit der Sopranistin Dawn Upshaw und der London Sinfonietta).
Ihr Erfolg selbst in den englischen und amerikanischen Pop Charts stellt ein nach wie vor unergründ-bares Phänomen dar. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ist David Zinman jedoch weder ein Senkrechtstarter, noch Bestandteil jener Jet-setGeneration klingender Namen, die zwar eine magnetische Anziehungskraft ausüben, aber häufig hinter den Erwartungen zurückbleiben. Vielmehr gehört er zu der leider im Aussterben begriffenen Dirigentenspezies, die ihr Handwerk von Grund auf gelernt hat, in jedem Stadium Entscheidendes leistet und sich vorrangig der Musik und den ihr anvertrauten Musikern verpflichtet sieht. Schließlich hatte Zinman das Glück, in Pierre Monteux seinen entscheidenden Lehrer und Mentor zu finden. Von ihm stammen die Worte, „ich übergebe der Welt mein Erbe in Gestalt meines geliebten Schülers David Zinman. Durch ihn wird die Jugend eines alten Maestro weiterleben.“
Zinman, wiewohl noch bis Ende der Saison 1998 gleichzeitig Musikdirektor des Baltimore Symphony Orchestra und anschließend für vorläufig vier Jahre in gleicher Position für das Festival und die angeschlossene Schule in Aspen, Colorado, verantwortlich, ist über seine Berufung in die Schweiz glücklich. Beruht Zinmans Ruf in den USA auch auf seinem Einsatz für die zeitgenössische Musik, so sieht er sich in Zürich grundsätzlich erst einmal dem klassischen europäischen Repertoire verpflichtet. „Es ist ja in erster Linie ein deutsches Orchester. Das Züricher Publikum ist bei aller Begeisterungsfähigkeit eher konservativ. Man muß behutsam rangehen, Neues in die Programme einzubringen. Jemand sagte zu mir: ‚Sie müssen verstehen, das hier ist die Schweiz und kein anderes Land. Das Publikum hier wird ihnen erst folgen, sobald es ihnen hundertprozentig glaubt und von Ihnen überzeugt ist.‘“ Das zu erreichen, ist ein langer, schrittweiser Prozeß. Für den Jahrhundertwechsel bleibt es mein Wunsch, zwei, drei oder auch vier Spielzeiten um Strawinsky herum aufzubauen, der für mich das 20. Jahrhundert am entscheidendsten repräsentiert - zu zeigen, welche Musik zu Strawinsky führt und was von ihm inspiriert wurde. Das bedeutet eine Menge guter Alter und guter Neuer Musik.“
Betrachtet man das riesige Œuvre, das David Zinman mit europäischen und amerikanischen Orchestern für die unterschiedlichsten Label eingespielt hat, so ist es schwierig, Kriterien für seinen musikalischen Geschmack zu finden. „Ich mag alles und esse Musik. Für mich gab es nie einen Unterschied, welchem Jahrhundert Musik angehört, die Klangwelt als solche fasziniert mich. Durch meinen Lehrer Pierre Monteux lernte ich dessen französisches Repertoire und alle Strawinsky-Ballette kennen. Meine Dirigentenkarriere begann beim Niederländischen Kammerorchester, was mein Interesse für die Wiener Klassik und auch für die Moderne weckte. Gewiß, es gibt eine Reihe weißer Flecken – so werde ich mich bald an Nielsen wagen – und noch viele Wünsche, darunter George Antheils Oper „Transatlantic“. Zu einem großen Teil bestimmt ja die Musikindustrie das Profil eines Dirigenten; doch ist inzwischen das Repertoire derartig übersättigt, daß man selbst Vorschläge machen kann, die eventuell einen Durchbruch schaffen.“
David Zinman studierte in seiner Jugend Violine und, bevor Pierre Monteux dessen vielversprechendes Talent entdeckte, Komposition. „Ich hatte nie eine Solokarriere im Sinn; die Violine galt ausschließlich dem gemeinsamen Musizieren, was in vieler Hinsicht dem Dirigieren zugute kam. Hier lernte ich, mich anzupassen, hier entwickelte sich mein Sinn für Zusammenarbeit und mein Gehör, alles gleichzeitig mitzuverfolgen. Auch das Kompositionsstudium zielte nicht darauf, selber zu komponieren, sondern entsprach meinem Wunsch, herauszufinden, wie Komponisten gearbeitet haben. Man muß von innen heraus anfangen und sich fragen, warum ist das so und nicht anders geschrieben. Daraus entwickelt sich ein enormer Respekt für den Komponisten. Für alles, was man emotionell tut, muß eine intellektuelle Basis existieren. Monteux war in Proben und Konzerten der hundertprozentige Profi. Orchester liebten sein tiefes Wissen, sein Traditionsbewußtsein und seine Autorität. Das alles läßt sich nur im Laufe einer langen Karriere erwerben. Sein ganzer Arbeitsstil war in den letzten sechs Jahren seines Lebens für mich Vorbild und Faszination. Nicht daß er viel unterrichtete, doch reiste ich mit ihm, leitete Proben, darunter selbst die Generalprobe und profitierte von seinen Vorstellungen.“
Erfahrungen und Alter erlauben es Zinman, sich auf die neue Aufgabe in Aspen zu freuen und einer neuen Generation als Mentor zu helfen. Was ist für ihn das wichtigste für einen jungen Musiker, der zum ersten Mal vor einem Orchester steht? „Sehr vereinfacht, das Wissen um den richtigen Klang. Selbst bei unsauberem Zusammenspiel, mangelnder Inspiration und Schlamperei läßt ein großartiger Klang alles vergessen. Doch dafür muß ein junger Dirigent den Klang, den er kreieren will, im Ohr haben. Ein Orchester zu führen, gleicht einem guten Reiter, der weiß, wann man ein Pferd gehen läßt und wann man es zügelt, ohne es zu schlagen. Das Pferd muß aus eigenem Antrieb laufen wollen. Unter Monteux brauchte ich lange, bis ich verstand, wie er das Orchester mit einem Minimum an Gestik führte. Um mit Bruno Walter zu sprechen: Wenn man jung ist, investiert man soviel mehr Energie und das macht alles viel schwieriger. Man möchte selber das ganze Orchester sein, was dem Orchesterethos natürlicherweise ein Dorn im Auge ist. Um das richtige Mittelmaß zu finden, braucht man unglücklicherweise etwa 30 Jahre. Es ist so wichtig, einem Orchester das Gefühl zu geben, daß man ihm vertraut – und doch da ist. Wagner sagte einmal, das Wichtigste für einen Dirigenten sei das richtige Tempo. Die meisten jungen Dirigenten haben zuviel Adrenalin und dann enstehen die Probleme. Andere wiederum treten vor ein Orchester und plötzlich sind ihre Ohren zu, sie hören nichts mehr.“
David Zinman befürchtet, daß das herkömmliche Sinfonieorchester mit dem, was sich dort gegenwärtig abspielt, im neuen Jahrhundert zum Museum, zu pro musica antiqua degeneriert. „Doch sind es letztlich die Komponisten, die alles formen. Ich habe großes Vertrauen in sie. Es wird immer Komponisten geben, die neue Wege formulieren und sich ihr eigenes Publikum schaffen, das ihnen folgt – in eine Fabrik, ein Schwimmbad, einen Konzertsaal. Schließlich ist es des Dirigenten Pflicht, Komponisten aufzuführen, nicht aber dem eigenen Ego zu huldigen.“ Gegenwärtig schreibt Zinman an einem Buch. „Es handelt von meiner Kindheit, von drei Tagen des Jahres 1942 – der mütterlichen Entscheidung für Violinunterricht, der ersten Violinstunde und der Entdeckung, daß mein Großvater im Sterben lag. Alles übrige wächst aus diesen drei Tagen: eine Serie von Portraits, aus denen auch mein Leben spricht.“