Auch in Wien vergisst man ihn nicht ganz: den „realen Sozialismus“, der (nicht zuletzt in Selbstdarstellungen seiner Protagonisten) gerne hochtönend „Kommunismus“ genannt wurde. Obwohl Österreich nach 1945 teilweise sowjetisch besetzt war und drei realsozialistisch geprägten Länder die Alpenrepublik bis 1989 zu fünf Sechsteln umringten, schien die neuere Geschichte dieser Nachbarschaft (oder auch nur die eine oder andere Episode aus ihr) kein Thema für die Musiktheaterbühnen.
Gegen diese Berührungsangst, die insgesamt noch keineswegs gebannt erscheint, ermunterte (sich) eine netzzeit-Produktion im Rahmen der Reihe „out of control“: Giorgio Battistellis Melodram „Der Präparator“ zeigte sich in einer neuen deutschsprachigen Version im ORF-Radiokulturhaus (Jean-Jacques Rousseau hätte an der Reaktivierung der von ihm so entschieden beförderten Kunstform seine helle Freude gehabt!). Die Zuschauerreihen in dem keineswegs sonderlich großen Saal waren allerdings nicht voll besetzt – das Thema bleibt fortdauernd Interessengebiet einer Minderheit.
Hinter drei eher symbolischen Vorhangfähnchen rappelt und rüttelt die Schlagzeug-Batterie meist diskret. Vor ihr wartet der offene Sarg, aus dem zwei Schuhspitzen ragen. Der Präparator präpariert sich für die aktuelle Aufgabe: Der graue Mann im grauen Anzug stellt zwei Flaschen Wodka bereit und schleppt zusätzlich einen Rahmen Bierflaschen herbei. Martin Schwab trinkt und spricht sich warm. Er räsoniert über die fällige Wiederherstellung von Disziplin und Ordnung im Lande. „Wenn Du wiederkämst!“ himmelt er die einbalsamierter Leiche Wladimir Iljitsch Uljanows an, die er wieder auf Vordermann zu bringen hat. In wiederkehrenden Schüben fürchtet sich Alexander Mischin jedoch zugleich vor dem von Lenin initiierten Terror, dem zuerst „bourgeoise Elemente“ und orthodoxe Priester, später auch sein proletarischer Vater, dann sogar die Mutter zum Opfer fielen. Vom Altvorderen hat er immerhin die Liebe zum Wodka geerbet (viel mehr war nicht drin). Der Charakterdarsteller Schwab kostet die Pointen von Caroline Webers neuer Textfassung aus. Die von Lenin proklamierte Diktatur des Proletariats hält er primär für ein quantitatives Problem: dieser Diktator benötige ja wohl einen dreißigstöckigen Palast von wenigstens 50 km Länge und 20 km Breite – und was das allein an Strom und Heizung kostet!
Drei Kontrabässe, drei Celli, Tuba, Posaune, Horn und (Kontra-)Fagott, deren Ensemble nicht um typische Diskantinstrumente ergänzt wurde, färben den Kammerton demonstrativ dunkel (Ausnahme: die Trompete). Unter der akkuraten und fürwahr geistesgegenwärtigen Leitung von Johannes Kalitzke agieren die Mitglieder des Klangforums Wien im linken Drittel der Bühne (sichtbar müssen sie immer wieder auf improvisatorische Freiheiten des Solisten reagieren). Die 13 Instrumente strukturieren mit Battistellis vielschillerndem Sound den Zeitverlauf der Arbeitssitzung, artikulieren die „inneren Stimmen“ des Leichenrestaurators, grundieren das Schlucken und Sich-Auskotzen dieses altgedienten, unglücklich verheirateten Mitarbeiters am Institut für Anatomie des Volkes in Moskau. Etwa bei Promillepegel 2,2 macht er sich endlich über das wurmstichigen Reste des Revolutionärs her. Man vermeint musikalische Anklänge an den russischen Staatszirkus zu vernehmen. Ziel der Wiederaufbereitungsmaßnahmen ist übrigens die Flexibilisierung des starren Kunden – auch die Kunst der Reliquienkonservierung unterliegt feinsinnigen Entwicklungen. Die Trompete trillert dazu. Immerhin erreichten den Restaurator bereits lukrative Angebote der georgischen Mafia, die Reste von Lenins Körper unauffällig in die USA zu überführen.
Das einsame Zwiegespräch zwischen Rezitator und Klangforum, in dem Nostalgie mit den Nachzuckungen der Genickschüsse wechselt, geht hörbar zur Neige: sieben Jahrzehnte der als sozialistisch bzw. kommunistisch deklarierten asiatischen Despotie sind (inszeniert von Michael, ausgestattet von Nora Scheidl) in groben Erinnerungszügen durchmessen, der Kunstleiche Lenins hinreichend neue Chemikalien injiziert. „Je eher wir vergessen, wer du einmal warst, desto besser“ raunzt Martin Schwab. Wunderbar. Dann aber macht es Puff. Eines der Beine war dem Druck der konservatorischen Anforderungen nicht gewachsen. Noch bevor Gegenmaßnahmen bedacht oder gar eingeleitet werden können, pulverisiert sich auch das andere Bein. Und dann zu allem Überfluß der Kopf. Lenin verkrümelt sich. Ja: er verstaubt gleichsam spontan (wo er den Spontaneismus doch so hasste!).
Der für den Erhalt der Ikone verantwortliche Spezialist erwägt, sich zu einem gutbezahlten Vortrag ins verhaßte Amerika abzusetzen oder in London um Asyl anzusuchen. Schließlich rafft sich der Tonsatz zum letzten Gefecht auf. Die Musikgeschichte lässt ihm irgendwie keine andere Wahl: das Kammerensemble zitiert die Melodie der „Internationale“ in voller Länge, überformt sie dabei chaotisch und doch zugleich pedantisch. Durch den besonders hübsch dissonanten Kammerorchestersatz erscheint die Hymne systematisch „verbeult“. Der monologisierende Präparator jagt sich eine Spritze in die Brust, um sich für immer ruhig zu stellen, und tritt mit letzter Lebenskraft an die Stelle des haßgeliebten Lenin. Er, der dem obersten Sachwalter der „Diktatur des Proletariats“ nach Meinung von Passanten ohnedies ähnelte, klettert in den Sarg und nimmt den Ehrenplatz des zerbröselten Schreckensherrschers ein. Geschichtsdarstellung, so weiß er, beruht nun einmal in hohem Maß auf Stilisierung, Täuschung und Lüge auf der Seite der Betreiber, auf Glaubensbereitschaft und Gleichgültigkeit bei den Rezipienten.