„Tristan und Isolde“, vor zwei Jahren als „Public Viewing“ zu erleben, schien bereits abgespielt. Aber bevor Festspielleiterin Katharina Wagner 2014 selbst den „Tristan“ inszenieren wird, wurde Christoph Marthalers postmoderne Sicht auf Wagners „Handlung in drei Aufzügen“ als letztes Werk im Bayreuther Premierenreigen dieses Sommers wieder aufgenommen. Ein erfolgreicher, aber kein wirklich berückender Abend.
Vielleicht hätte Christoph Marthaler an seiner Inszenierung einige Details verändert. Aber er verschließt sich der Praxis der Neubayreuther Werkstatt-Idee. An seiner Stelle hat Anna-Sophie Mahler, das Vorbild getreu nachvollziehend, gute Arbeit geleistet.
Trotz aller verstörenden, die reale Handlung bewusst verweigernden Aktionen dieser Produktion, gibt es auch Momente, die ungewöhnlich sind, sich aber gleichwohl aus Wagners tristanischer Ideenwelt herleiten. Hatten Tristan und Isolde im zweiten Aufzug darüber reflektiert, dass sie nicht mehr sie selbst, sondern jeder der andere seien, so macht Isolde dies auf der tiefsten Stufe der untereinander liegenden Bühnenräume, quasi im Keller der Geschichte, zur Tat: anstelle des am Boden verendeten Tristan schlüpft sie auf dem eingezäunten Krankenbett in dessen Rolle, wird zu Tristan selbst; nach dem Ende ihres Gesangs zieht sie sich die Bettdecke über den Kopf – Fine.
In der rein philosophischen Betrachtung über Tag, Nacht und Liebe, ging Marthaler nicht so weit, wie sein Vorgänger Heiner Müller im ersten Jahr von dessen Bayreuther Inszenierung, wo sich die Liebenden überhaupt nicht berührten. Aber die Annäherung dieses Paars bleibt stets formal, die körperliche Beziehung gipfelt im Ausziehen von Isoldes Handschuhen. Auch nach der Anklage unterbleibt Tristans provozierender Kuss auf Isoldes Stirn.
Und gegenüber Heiner Müller kommt Marthaler ohne Waffen aus, da er den Kampf im dritten Aufzug ebenso eliminiert, wie das schartige, verräterische Schwert Tristans. Nur im zweiten Aufzug benötigt selbst Marthalers reduzierte Aktion eine Waffe: Tristan setzt Melot bedrohlich ein Messer an die Kehle und führt ihm die Hand zum tödlichen Stich gegen sich selbst, worüber Melot so in Wut gerät, dass er Tristan noch dreimal in den Rücken sticht. Dies gerät witzig, vermag sich aber im weiteren Verlauf der Handlung nicht einzulösen, denn dann ist in Wort und Spiel stets nur von der einen Wunde durch Melot die Rede.
Manche musikalisch signifikante Motive bleiben im Spiel unbeachtet, etwa die aufwärts gerichtete Harfenfigur in der inaktiven Zeitspanne nach der Einnahme des vermeintlichen Todestrankes. Aber das letzte Tagesmotiv vor „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ wird hier ins Bild gesetzt, indem mit diesem Akzent Melots Silhouette hinter der Riffelglasscheibe der Eingangstür sichtbar wird.
Die Sängerbesetzung ist unverändert wie vor zwei Jahren, verändert hat sich aber deren Qualität. Mit Iréne Theorin und Michelle Breedt stehen zwei Heroinen auf der Bühne. Während zumeist Brangäne über die dunklere Stimmfarbe verfügt, ist es hier genau umgekehrt. Michelle Breedts hochdramatisch gestaltete Brangäne ist kurzsichtig im doppelten Sinne, sie setzt eine Brille auf, um die Aufschrift des Gifttranks zu entziffern und zitiert Tristans Worte mit farblich imitierender Wiedergabe. Iréne Theorins voluminöse Isolde ist im ersten Aufzug zu laut in ihrem Aufbegehren, aber schön in der Phase „Er sah mir in die Augen“. Ihr Bemühen um Textverständlichkeit hat leider deutlich nachgelassen.
Gewonnen hat hingegen Robert Dean Smith’ Rollengestaltung des Tristan, mit zumeist ausdruckslosem Gesicht und der Inszenierung geschuldeter Zurückhaltung in seinen Ausbrüchen, aber musikalisch nun rundum sicher, mit innigen Piani und schönen Schwelltönen im dritten Aufzug. In balsamischer Kantabilität eines Kunstliedes schwingt in Roberts Holls Marke primär dessen Liebesbeziehung zu Tristan. Jukka Rasilainen als Kurwenal im Kilt, im ersten Aufzug grobschlächtig und mit deutlichem S-Fehler, aber stets deutlich artikulierend, obsiegt in seiner Gestaltung als Tappelgreis im dritten Aufzug. Arnold Bezuyen singt die Partie des Hirten in übergroßem Gegensatz zu seiner Darstellung als lethargischem Hausmeister, in Beobachtung selbstlaufender Energie-Indikationen der im Keller gelagerten Neonröhren.
Farbiger als der Eindruck der Ausstattung von Anna Viebrock sind die Nahaufnahmen dieser Produktion im Programmheft. Überhaupt sind die neuen Bayreuther Programmhefte in drei Sprachen treffliche Bilder-Bücher der Inszenierungen. Textlich bietet das „Tristan und Isolde“-Programmheft eine Abhandlung über SADS, die in Großbritannien auftretende Krankheit, am ersten Kuss zu sterben, neben Texten von Karoline von Günderrode, Wagner, Nietzsche, Musil, sowie aus Dramen von Sarah Kane.
Peter Schneiders musikalische Interpretation bietet all zu wenige Gegensätze zwischen Nacht und Tag. Dass das im dritten Aufzug merklich unkonzentrierte Festspielorchester die Sänger zu übertönen versucht, ist angesichts der Bayreuther Akustik aus dem verdeckten Graben ein Novum. Der Dirigent, merklich gealtert, tappelte im Duktus dem Spiel der Senioren gemäß vor den Vorhang. Ein Buhruf gegen Peter Schneider löste am Premierenabend eine Flut von Bravorufen aus. Trotz Publikumsjubels kein krönender Abschluss des Bayreuther Premierenreigens.
Nächste Aufführungen: 4., 10., 16., 22. und 28. August 2011.