Salzburg hat seine Festspiele, wir in NRW haben die Ruhrtriennale. Und mit Johan Simons einen neu bestellten Lenker, Denker, Weichensteller, der sich auf die Geschichte mit den umfunktionierten Arbeitsstätten schon unter Gerard Mortier seinen ganz eigenen Reim gemacht hatte. Einen, der der sozialdemokratisierten Theaterseele in jedem Fall aus derselben spricht. Niemand soll sich ja ein schlechtes Gewissen machen müssen, wenn der Glaube an die „Hochkultur“ verloren, der Wunsch nach Theater aber geblieben ist.
Geht natürlich nur, wenn es ein Theater ist, das Stallgeruch hat. Ein Trend, auf den Johan Simons schon allein deshalb nicht aufspringen musste, weil er ihn selber mitgesetzt hat. Zusammen mit seiner Theatergroep Hollandia hat er sie jahrzehntelang bespielt, all die Fabrikhallen, Ställe, Schrottplätze, Kirchen, den Schmuddelraum unter Brücken inklusive. Wobei es fürs Alternative am alternativen Spielort bekanntlich immer am besten ist, wenn Vormieter, Vorbesitzer darin gerade eben noch herumgewerkelt haben.
So gesehen lag es nahe, dass Simons mit seiner Berufung an die Spitze der Ruhrtriennale einen begehrlichen Blick nach Dinslaken werfen würde. Mit der Mischanlage Lohberg steht dort nämlich eine vergleichsweise erst kürzlich a.D.-gestellte Endmoräne der Industriegesellschaft Einspunktnull. Ein leer geräumter Satteldach-Schuppen ohne architektonische Ambitionen: 200 Meter lang, schotterbedeckt, mit totem Gleis und einem trügerischen Ausblick ins Grüne. Für Simons ein Traum. „Endlich wieder Staub!“, stoßseufzerte er nach der Eröffnungspremiere „Accatone“, in der der Regisseur Simons am Dirnen- und Zuhältermilieu Fragen um Leben und Sterben im Prekariat/Subproletariat verhandelt hatte.
Weshalb es denn auch ein umso schrillerer Ton war, als der SPD-Vize-Bürgermeister von Dinslaken Eyüp Yildiz im Vorfeld zu Protokoll gab, dass Lohberg keine Hochkultur brauche, sondern Arbeitsplätze. Und wenn schon Kunst, so ließ sich Yildiz zitieren, dann eine, die die Sprache von Dieter Bohlen und Heidi Klum sprechen müsse. Womit der Krater, den man für ewig geschlossen wähnte, wieder aufgerissen war. Ausgerechnet ein Sozialdemokrat mit Migrationshintergrund stellte zur Disposition, was Wir in NRW uns so schön zurecht gelegt haben: Musik und Theater in ausgedienten Zechen, Kokereien, Mischanlagen. Hochkultur! schallt es zurück. Ein Zwischenruf, genauer: ein Tritt vors Ruhrtriennale-Schienbein aus gänzlich unvermuteter Ecke. Ein gebürtiger Dinslakener mit türkischen Wurzeln, Jahrgang 1968, der sich zu einem Ressentiment bekennt, das gerade bei den Sozis tief sitzt – das Misstrauen gegenüber allem, was nach nicht-mehrheitsfähiger Kunstäußerung riecht. So wird es zu den spannenden Fragen dieser Intendanz gehören, welche Wege dieser „Diskurs“, vermutlich stark mäandernd, nehmen wird.
Was endlich das Tableau der ästhetischen Weltsichten betrifft, soweit es in dieser Ruhrtriennale schon aufgeschlagen war, machten sich die Stimmungsaufheller eher rar. Es sei denn, man deutet das notorisch gewordene Umständemachen der Ruhrtriennale als „Flair“. Kaum ein Theaterabend ohne Zwangsteilnahme an industriekulturellen Wanderungen, ohne dieses ganze spezielle Veranstaltungswesen. Der Besucher spürt es unterm Opernschuh. Im Fall von Simons’ Film-Adaption „Accatone“ war ein kilometerlanger An- und Abmarsch zu absolvieren; im Fall der Monteverdi-Bearbeitung „Orfeo“ ging’s in die Vertikale. Hoch mit dem Kohlen-Aufzug, über Treppen wieder runter, hinein in dieses, in jenes Zimmer, wo uns untote Eurydikes anstarrten und wir sie. Du musst sie dir erlaufen, deine alternativen Spielstätten! Dazu unkte ein neunmalkluges Programmheft eine „Sterbeübung“ herbei, vom Team um Susanne Kennedy in die Türme der Mischanlage auf Zollverein Essen installiert und von Ensemble Kaleidoskop mit einer Monteverdi-Endlosschleife beschickt. Motto: Was man sieht, was man sehen sollte!
Hatte Gerard Mortier Wert darauf gelegt, den „Geist“ der alten Industriebrachen in den neu geschaffenen „Theatersälen“ zum Erscheinen zu bringen, so war Johan Simons immer schon der Materialist der Bewegung. Für „Sentimenti“, eine Geschichte um Leben und Liebeshändel einer Bergmannsfamilie, hatte er sich in Bochum einen Raum aus Briketts bauen lassen. Jetzt in Dinslaken ist er für seinen „Accatone“ noch einen Schritt zurückgegangen, zurück in den Ursprung allen Stoffs: Asche, Staub. Nur, so oft sich auch seine handverlesenen Schauspieler in den Dreck warfen, ins Grab fielen – man hatte wirklich nicht den Eindruck, dass sie mit ihren herdeklamierten Randgruppen-Befindlichkeiten irgendetwas am Hütchen hatten. Eyüp Yildiz, wäre er dabei gewesen, hätte hier einiges lernen können über die Höhe solcherart Hochkultur.
Ja, und dann war da noch die Musik. Philippe Herreweghe, der mit seinem Collegium Vocale Gent Bach musizierte – zum Niederknien schön. Nur, dass das Himmlische mit dem Irdischen, mit Accatone, Asche, Staub, Grab nichts zu tun hatte.Abgetrennt, ohne Zusammenhang spulte Herreweghe ein zerfleddertes Bach-Pasticcio ab. Pasolini, dieser tiefkatholische Häretiker, hatte mit der Matthäuspassion das Niedere geadelt, Simons das Belanglose.
So war der Grundton dieses Abends Eintönigkeit. Übrigens ganz wörtlich. Bei aller Begeisterung für einen schottrigen 200-Meter-Schlauch, bespielen lässt er sich nur, wenn das Ensemble durchmikrofoniert ist. Die Folge: Alles klingt gleich nah, selbst wenn Accatone und Maddalena außer Sichtweite sind. Das feine Spiel von Nähe und Ferne, woran die ganze Kunst hängt – außer Kraft gesetzt. Simons-Vorgänger Heiner Goebbels wusste schon, weshalb er lieber verzichten wollte auf Sprechtheater in Mischanlagen und dergleichen.