Fast dreißig Jahre ist es her, seit zum ersten und einzigen Male an der Komischen Oper Berlin „Die Meistersinger von Nürnberg“ herauskamen: Harry Kupfer inszenierte 1981 Wagners zweite – nach seiner frühen komischen Oper „Das Liebesverbot“ – ebenfalls heiter endende Bühnenpartitur auf der Drehscheibe und setzte damals, was Spielfreude angeht, neue Maßstäbe, aber auch klanglich, etwa durch die Besetzung der hohen Lehrbuben mit Counterstimmen, wie dem damals blutjungen Altisten Jochen Kowalski. Nun inszenierte Hausherr Andreas Homoki mit ähnlich spielerischem Impuls, inmitten kinetisch gesichts- und zunächst auch farbloser Häuser einer Spielzeugstadt Nürnberg und in einer herausragenden musikalischen Interpretation unter dem jungen Dirigenten Patrick Lange.
Noch im hell erleuchteten Zuschauerraum vor der leeren Bühne, also als ein Kunst-Stück des armen Theaters, setzt das Orchester ein, flott leuchtend und in C-Dur-Glanz. Ungebrochener Jubel in beschwingten Zeitmaßen initiiert auch musikalisch ein Konzept, das alle politisierenden Deutungen dieser Partitur links überholt. Mit dem ersten Empfindungsmotiv senkt sich eine schwarze Courtine, die mit Beginn des unsichtbaren Kirchenchors den Blick frei gibt auf graue, fensterlose Häuser, zwischen denen die vom grauen Volk beobachtete erste Annäherung zwischen den ebenfalls in Grautönen gewandeten, schlank aufragenden Protagonisten Walther von Stolzing und Eva stattfindet.
Nicht nur Beckmesser nutzt eines dieser Häuser als Gemerk, auch die übrigen Meister schlüpfen bei Walthers Probelied in die ihrer Anzahl entsprechenden unterschiedlichen Häuschen. Bereits mit dem Schlussakkord des ersten Aufzuges wird es wieder hell im Zuschauerraum, eine Regelung, die auch im zweiten Aufzug gilt und erst im dritten Aufzug – für die öffentliche Taufe der neuen Weise – durchbrochen wird. Drehte sich bei Kupfers Inszenierung die Bühne, so drehen sich und fahren nun die Häuser, die immer wieder neue Raum-Konstellationen ermöglichen (Bühnenbild: Frank Philipp Schloßmann). Beim Prügelfugato stürzen sie aufeinander und werden in Sachs’ Wahn-Monolog („wie friedsam treuer Sippen, getrost in Tat und Werk“) beim Nürnberg-Thema vom Volk wieder aufgerichtet. An Möbeln gibt es nur einen Stuhl, der als Singestuhl, Bank und Schemel angesprochen wird. Also sitzt Sachs häufig am Boden, auch bei der Mitschrift von Walters späterem Preislied: die Stadt Nürnberg ist sein Zuhause, und so findet Beckmesser das Lied und Sachs Schreibstift auf der Straße. Fürs Quintett entschwinden die Häuser rechts und links auf die Seitenbühnen, und auch bei der Verwandlungsmusik zur Festwiese gibt es nur die leere, hell erleuchtete Bühne zu sehen.
Dann aber schiebt das Volk, nunmehr in farbigen Kostümen mit leichten Bezügen zum Biedermeier und zur Entstehungszeit der Oper (Kostüme: Christine Mayer) die nun in Farben getauchten Häuschen herein, Nürnberg ist sich selbst Festwiese, auch ohne die Mädeln von Fürth, auf die hier ganz verzichtet wird, so dass David sich ausschließlich mit seiner Magdalena verlustieren kann, was auch andere Nürnberger – je dicker und oller, je toller – ansteckt. Außer vierzehn namentlich genannten Lehrbuben beiderlei Geschlechts. singen auch Teile des von Robert Heimann einstudierten Chores in den Chorszenen der Lehrbuben mit, später dann alle Chorsolisten der Komischen Oper Berlin und Mitglieder des Ernst-Senff-Chores.
Wo aber liegen die interpretatorischen Neuansätze von Andreas Homokis Inszenierung?
In erster Linie in der Figur der Eva: Ina Kringelborn als Goldschmiedtochter weint ob ihrer beabsichtigten Preisgabe als Sangespreis. Sachs liebt sie merklich tiefer als Stolzing, und bereits bei ihrem Fluchtversuch mit Koffer, in der Nacht des zweiten Aufzuges, ist sie körperlich hin- und hergerissen zwischen dem väterlichen Freund und dem jüngst errungenen Abenteuer-Heißsporn. Auch wenn auch ihr dramatischer Ausbruch „O Sachs, mein Freund“ weniger überzeugt als ihre lyrischen Passagen, so dediziert sie ihr (bei Wagner an Stolzing gerichtetes) „Keiner wie du so hold zu werben weiß“ an Sachs, den sie anschließend auf den Mund küsst.
Nach stimmlichen Engpässen eines leicht und lyrisch begonnenen ersten Aufzugs, wird Marco Jentzsch als Walther von Stolzing zusehends sicherer und vermag schließlich voll zu überzeugen. Jenseits von Zuschärfungen als jüdischer Außenseiter oder Neutöner in anderen Inszenierungen, ist der Beckmesser von Tom Erik Lie ein stimmlich reich differenzierender, urkomischer Mandolinenvirtuose. Am Ende blickt er, einsam mit Sachs, dem vom Volke triumphierend fort getragenen Stolzing nach. Als Sonderling ist er das elegante Gegenstück zu einem herzerfrischend bodenständigen, aber schlitzohrigen Sachs. Der Isländer Tómas Tómasson verkörpert diesen Nürnberger Tevje, mit Schürze und Kappe, souverän, mit warmem, kräftigen Bariton und optimaler Diktion, – ein rundum überzeugender Sängerdarsteller, und seit Jahren eine der rundesten Leistungen in dieser Partie. Die wandlungsfähige Karoline Gumos als Magdalena (hier auch in der ersten Szene des dritten Aufzuges zugegen), Thomas Eberstein als Sachs’ Lehrling David und Dimitry Ivashchenko als souveräner Pogner bieten gesanglich und darstellerisch überzeugende Rollenprofile.
Patrick Lange verlangt vom Orchester der Komischen Oper Berlin hohe Intensität, leichte Wackler (im zweiten Finale oder beim Einsatz des Chors der Schneider) hat er rasch im Griff; nur wenn der Nachtwächter (Jan Martinik) seine Strophen verwechselt, ist auch der beste Dirigent machtlos. Insgesamt schillert leuchtet Wagners Partitur hier im offenen Graben deutlich mehr als im verdeckten magischen Abgrund Bayreuths.
Einhellig und ohne Widerspruch feiert das Publikum die Mitwirkenden und die Vorstände für eine vielleicht allzu glatte, aber herzerfrischend direkte Sicht auf das potemkinsche Kunstdorf Nürnberg und seine schrulligen Individuen.
Weitere Aufführungen: 2., 9. Oktober, 7., 13., 27. November, 12., 26. Dezember 2010 und 17. Juli 2011.