Marseille ist, neben Košice im Osten der Slowakei, eine der beiden temporären „Kulturhauptstädte“ Europas. Zu den politischen Wünschen oder Auflagen gehörte, dass die große französische Hafenstadt am Mittelmeer möglichst viel Aufmerksamkeit der „Gegenküste“ widme, deren Kultur in Geschichte und Gegenwart. Indem sich die Augen und Ohren einer internationalen Öffentlichkeit heuer routineturnusgemäß auch auf Marseille zu richten versprachen, hat dort nicht nur das imposante Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée seine Tore geöffnet.
Die „freie“ Musik- und Theaterszene, in der die Fermente nordafrikanischer Kulturen nicht zu übersehen sind, erhielt zwar keine berauschende Aufbesserung durch Mittel aus öffentlichen Kassen, doch da und dort einen gewissen Anschub; insbesondere ein etwas erhöhtes überregionales Interesse. Auch die Opéra Marseille leistet einen Beitrag zu den besonderen Bemühungen des Kulturhauptstadtjahrs und befasst sich mit zwei großen Werken, deren Handlungen an der gegenüberliegenden Küste angesiedelt sind. Am 12. und 15. Juli stehen, im unmittelbaren Anschluss an die Opernpremieren des Festivals d’Aix-en-Provence, „Les Troyens“ von Hector Berlioz auf dem Spielplan – mit einer von Bátrice Uria-Monzon (in der Doppelrolle der Kassandra und der Dido) sowie Roberto Alagna (als Äneas) angeführten internationalen Sänger-Crew und dem Lokalmatador Lawrence Foster als Dirigenten. Zwei miteinander verflochtene tragische Frauenschicksale am Meeresstrand – allerdings nur konzertant in Erinnerung gerufen.
Reaktiviert nach 99 Jahren
Die szenischen Anstrengungen konzentrierten sich zuletzt auf „Cléopâtre“ von Jules Massenet. Es handelt sich bei dieser Oper um eine der letzten Repräsentantinnen des Genres Grand opéra. Es mag Zufall sein, dass die sagenhaft schöne und als verrucht in die Annalen eingegangene Pharaonin, diese Wanderratte der Weltgeschichte, derzeit wieder international Konjunktur hat. Sie ist also eine Heldin für manche Gelegenheit geblieben. Das nachgelassene Werk Massenets, 1914 uraufgeführt in Monte Carlo und damals mit einiger Anerkennung bedacht, wurde ad acta gelegt, nachdem es abgespielt war, und dann gründlich vergessen.
Dass es der Mehrzahl der auf die Bühnen gelangenden Werke so ergeht, ist eine schiere Notwendigkeit: Die menschliche Aufnahmefähigkeit, die Kapazitäten der Lagerstätten und selbst die Ressourcen der reproduktiven Kulturindustrie sind begrenzt: es muss und soll immer wieder Platz für Neues geben. Dem kulturellen Gedächtnis der Kulturträgerschichten bleibt bei anschwellendem Angebot nichts anderes übrig, als sich kontinuierlich auch wieder zu entlasten. Und dann sollte nicht verkannt werden, dass das Wiederauffinden und Reaktivieren von abgesunkenem Kulturgut ja seit Jahrhunderten einen eigentümlichen Reiz und charakteristische Formen von Selbstbewusstsein entwickelte.
Das „Cleopatra“-Libretto fokussiert, wie bereits Shakespeares 1623 gedruckte Tragödie, auf die letzte Lebensphase der Titelheldin – auf die Dekade der Liebes- und Lebenszeit mit Marcus Antonius, dem zunächst dominanten Politiker im zweiten Triumvirat am Ende der römischen Republik. Die Librettisten Louis Payen (alias Albert Liénard) und Henri Cain kontrastierten geschickt wechselnde Schauplätze und schufen einen Musiktheatertext nach dem bewährten Schema der fünfteiligen Historien-Oper, wie sie von Giacomo Meyerbeer und Jacques Fromental Halévy in den 1830er Jahren etabliert worden war, sich aber nach einem halben Jahrhundert überlebt hatte.
Die Exposition gewährt zunächst einen chorgestützten Blick ins kleinasiatische Feldlager, in dem der siegreiche Militärmachthaber im Jahr 41 v.Chr. auf die vakante ägyptische Königin hingewiesen wird (er war ihr in jungen Jahren bereits als Kavallerieoffizier begegnet). Da er aber nicht in die Fußstapfen des unlängst durch ein Attentat der Welt abhanden gekommenen Julius Caesar treten will, weist Mark Anton den Gedanken weit von sich, der Kurtisane auf dem Pharaonenthron näher zu treten. Das Verhängnis nimmt freilich seinen Auftakt, als Cleopatra kommt, gut aussieht und siegt. Sie, das Idol, in das sich in allen Epochen die Frauen hineinträumen konnten, nimmt ihn und nimmt mit auf den Flügeln des Gesangs unter ihrem weiten Schleier. Wie bei den Berlioz-Konzerten als Cassandre und Dido agierte Béatrice Uria-Monzon auch bereits als Cléopâtre. Sie wirkte in der Titelpartie solide, demonstrierte in den tieferen Lagen reife Sinnlichkeit, verfügt aber nicht über jene schauspielerische Aura, die einer Kleopatra gut zu Gesichte stünde. Stimmlich erwies sich Kimy Mc Laren (Octavia) als ebenso gefährliche Rivalin wie in der politischen Intrige. Zwischen den beiden Frauen profiliert sich der Bariton Jean-François Lapointe mit gleichsam schwerem stimm-militärischem Gerät.
Der orientalischen Hemisphäre der erotischen Dynamik und wechselnden exotischen Schauplätze stellt sich die in Stein sedimentierte Machtzentrale des römischen Reichs als Mittelpunkt der spätantiken Welt gegenüber – Marc Anton erscheint im Senat und an der Tür des Brautgemachs, in dem er eigentlich Octavia beglücken sollte, die Schwester des nachmaligen Kaisers Augustus (man fragt sich, warum er es nicht en passant tut). Der irgendwie doch grundehrliche Antonius tritt vom Vorsatz der politisch nützlichen Eheschließung in Rom zurück, weil ihm die heiße Pharaonin und das laszive Luderleben mit ihr nicht aus dem Sinn kommt. O ihr Männer!
Dann Gegenschnitt zu dieser Welt der Schönen und Reichen: Das Alltagsleben der multikulturellen Gesellschaft an den Gestaden des Mittelmeers, wie es bereits in Flauberts „Salammbô“ und mit Ernest Reyers gleichnamiger Oper rekonstruiert worden war. In diesem Unterland des dampfenden halbnackten Fleisches, der leiblichen Genüsse aller Arten und vornan des exzessiven Tanzes amüsiert sich Cleopatra incognito, ohne in der Inszenierung von Charles Rouboud die Merkmale einer raubtierhaften Grausamkeit an den Tag zu legen. Generell hält es der Regisseur mit abgeschwächter Kostümfilmästhetik, also auch Insignien der römischen Staatsrepräsentation und des blankpolierten Militärwesens, reproduziert in preiswerter Schlichtheit. Schließlich kredenzte der Ausstatter Emmanuelle Favre wie in „Aida“-Inszenierungen älteren Datums, großformatige Grabkammerkunst für den schwer geschlagenen und an seinen Wunden zugrunde gehenden Antonius und Cleopatras Nummer mit dem Körbchen.
Bedarf gedeckt?
Tauchten in den letzten Jahren Werke nach langer Abstinenz wieder auf den Bühnen auf, wurden sie In der Regel als „(Wieder-)Entdeckung“ gefeiert. Die (meist nicht ganz interessefreie) Begeisterung der Rezensenten, die die Neuerkundung begleiten, wird gerne mit dem leisen Vorwurf an die Opernbetreiber gekoppelt, diese seien zu lange säumig geblieben (was diese aber bekanntlich nicht im Mindesten rührt). Denn es ist, wie erwähnt, nachgerade zwingend, dass Arbeiten, die gestern noch das Interesse des Publikums fanden, heute nicht mehr auf den Spielplan gelangen und morgen mehr oder minder spurlos verschwunden sind. Die Kundschaft schätzt nun einmal neben dem „Bewährten“ die Innovationen. Bezüglich Massenets letzter, zu seinen Lebzeiten nicht mehr realisierten Oper, erscheint naheliegend, dass die nach der Uraufführung (kurz vorm Beginn des ersten globalen Kriegs im 20. Jahrhundert!) abgebrochene Rezeption dessen Folgen geschuldet sein dürfte – nach dem Desaster 1914/18 in der nördlichen Hemisphäre und den revolutionären Umbrüchen in den meisten europäischen Ländern war dem erotisch aufgeladenen, exotisch luxurierenden Opernwesen weithin der Boden entzogen und fokussierte sich das Interesse auf neue Themen und theatrale Modelle. Und mit „Werther“, „Manon“, „Thaïs“ sowie „Cendrillon“ war neben thematisch z.T. ähnlich gelagerten Stücken von Franz Schreker der Bedarf an musiktheatraler Opulenz des fin de siècle ausreichend gedeckt.
Wenn nun nach 99 Jahren die von Massenet in Musik gehüllte „Cléopâtre“ wieder stolz das Haupt erhob, dann gibt dies weder zu Begeisterungsbekundungen Anlass noch zu Wehgeheul: Es schließt sich für die auf Vielfalt hinsichtlich Gegenwart und Vergangenheit erpichten Ohren und Augen eine Lücke, die man als solche bislang gar nicht wahrgenommen hat. Die letzte Partitur des bereits schwer von einer Krebserkrankung gezeichneten Massenet geriet mit ihren feinohrigen Orientalismen respektabel, nicht sensationell. Der dieser Welt schon etwas entrückte Meister scheute sich nicht, gelegentlich der „Tristan“-Harmonik Reverenz zu erweisen und von Instrumentierungskniffs Richard Wagners hörbar Gebrauch zu machen. Aber insbesondere das Sterben Marc Antons, der den ihm in der Schlacht zugefügten Verwundungen erliegt, und der stolze Tod Cleopatras, die sich die öffentliche Demütigung einer im Triumphzug durch Rom geführten Besiegten mit anschließender Liquidation ersparen will, geriet in ihrem anti-wagnerschen Zuschnitt mustergültig: Lakonisch kurz ist dieses unheroische Ende, prosaisch trocken der Orchestersatz.
Dennoch scheint „Cléopâtre“ ein Werk der Erschöpfung – auch der Grand Opéra, die offensichtlich mit dem ersten Weltkrieg (gerade auch hinsichtlich ihrer Darstellungsformen von Krieg und Zivilgesellschaft, feudalem Machtgefüge und Religion) obsolet wurde. Der Notentext realisierte sich nun in Marseille handwerklich gediegen. Womöglich wird er in einiger Zeit anderswo nochmals „wiederentdeckt“ und als „Sensation“ präsentiert. Vielleicht dann mit einer etwas elastischer und emphatischer musizierten Tonspur und mit einer Inszenierung, die die bereits zu deren Lebzeiten einsetzende Inszenierungsgeschichte der Kleopatra ironisch oder witzig aufgreift. Doch jetzt schon hätte es der Brechung der vom Sandalenfilm besetzten Bildwelten bedurft, um aus gut gemeinten Reanimationswünschen prickelndes Theater zu machen. Auch wenn überwiegend „musikalische“ Erwägungen den Dirigenten Lawrence Foster zur Reaktivierung dieses Stücks veranlasst haben: Diese Musik dient nun einmal einer von Schönheitsexzessen, permanentem Ehebruch und Gewalttaten geprägten Handlung. Der musikalische Furor gilt einem gewaltigen Themenkonglomerat, inklusive dem keineswegs marginalen Aspekt der erst durch den Tod gebremsten sexuellen Selbstverwirklichung. Dieses Thema ist nicht unbedingt auf den östlichen Mittelmeerraum im ersten vorchristlichen Jahrhundert einzugrenzen.