180 Konzerte in drei Tagen auf 15 Bühnen, teils in Sälen für einige Tausend Zuschauer: maximale Qual der Wahl in einem Supermarkt für Jazz und manchmal nur fern Verwandtes. Nicht jedermanns Sache? Offenbar doch, denn es dominieren ganz normale Rotterdamer jeden Alters unter den gut 23.000 Besuchern, die täglich zum Ahoy pilgern, zu einem Veranstaltungszentrum im Süden der Stadt, das – von Fussballstadien einmal abgesehen – als größte überdachte Eventlocation Europas gilt.
Ein Festival als Stadtfest, zu dem man sogar geht, falls es die Nationalmannschaft ins Finale der Fussball-WM schafft. Nur wenn man sich ausrechnet, was bei rund 200 Euro fürs Wochenend-Ticket und Einnahmen an endlos vielen Cateringständen zusammen kommt, wird nachvollziehbar, was als Superstar-Parade für ein einziges Festival eigentlich nicht finanzierbar scheint: Hancock & Corea, Sonny Rollins & Ornette Coleman, Metheny & McCoy Tyner, Diana Krall & Norah Jones. Al Green & Stevie Wonder, Elvis Costello, Rickie Lee Jones. Hinzu kommen aufwendige Bigbandprojekte, World Music Stars wie Rokia Traoré oder Caetano Veloso. Wobei für die ganz großen Namen im Amazon-Saal 15 Euro zusätzlich fällig werden, die einen Sitzplatz garantieren.
Vor allem aber gibt es endlos viel an Jazzmusikern zu entdecken – unter besonderer Berücksichtigung der holländischen Szene (während deutsche Musiker schlicht fehlen). Die Band „Fugimundi“ des Trompeters Eric Vloeimans begeistert trotz ungewöhnlicher Besetzung (Gitarre und Klavier statt Bass und Schlagzeug) Hunderte von Landsleuten mit ihrem organisch wirkenden Stilmix von ausgesprochen eingängig bis frei improvisiert.
Spannender als die rundum soliden landeseigenen Klaviertrios von Alex Koo und Christian Pabst sind die Londoner Kollegen von Phronesis. Hier steht der Boss am Bass, stammt eigentlich aus Dänemark und gilt als wichtigster Vertreter des nicht nur im Musikbereich kreativen Loop Collective. Drummer Anton Eger frappiert mit einer besonders energiegeladenen Variante des derzeit bei vielen jungen Bands für Spannung sorgenden „Was drum machines können, bauen wir so nebenbei mit ein“. Bassist Jasper Hoiby lässt auch als Komponist aufhorchen, so dass „Phronesis“ tatsächlich als „spannendstes Klaviertrio seit E.S.T.“ gelten kann, woran selbstredend auch der Londoner Ivo Neame Anteil hat, der Pianisten-Klischees souverän meidet oder gewitzt mit ihnen spielt.
Kurt Elling erweist sich einmal mehr als DER zeitgenössische Jazzsänger und Entertainer, Pat Metheny als verlässlich spielwütig, gern auch im Rückgriff auf frühes Material. Die Saxophonisten Chris Potter und Odean Pope überzeugen in ungewohnt großen Besetzungen, wobei Potter auf ein Art Kammerorchester setzt, Pope auf eine hochkarätig besetzte Bläser-Section (Eddie Henderson, Howard Johnson u.a.). Auch wenn der Anteil des „Jazz Jazz“ am Gesamtangebot nicht auffallend groß wirkt, ist er doch eindrucksvoll vertreten: Joshua Redman mit seinem Double Trio sowie (mit Charlie Haden) zu Gast beim „Artist in Residence“ Ornette Coleman, Lee Konitz oder Bobby Hutcherson mit Cedar Walton.
Sonst in hiesigen Breiten selten zu hören: die zwischen subtilen Minimalismen und brachialen Arrangements agierenden Norweger der eigenwilligen Fusion- Großformation „Jaga Jazzist“, das Avantgarde-Octet des Altsaxophonisten Steve Lehman, an Aussagekraft noch überboten vom Project des jungen Pianisten John Escreet mit David Binney als Saxophonist und Herrscher über geheimnisvoll bis pathetisch wirkende Syntiesounds.
Mit selbstzweckhaftem Performance-Irrsinn unterhalten die aus Moers vertrauten Japaner des Shibusa Shirazu Orchestra. Strikt auf musikalische Substanz setzt die junge Band um den in Amerika viel gefragten Pianisten Tigran Hamasyan, dessen von armenischen Folksong geprägtes Konzert gelegentlich unter dem braven Gestus der Sängerin Areni leidet. Manchmal arg harmlos auch der Klavierjazz von Tord Gustavsen mit Sängerin Kristin Asbjornsen, die mit ihrem eigenen Gospel-Projekt besser zur Geltung kommt.
Zwei hierzulande noch kaum bekannte Sängerinnen faszinieren auf ganz unspektakuläre Weise: Gretchen Parlato mit verhaltenem Gestus und improvisationsbetonter Melodieführung; die in Rotterdam lebende Griechin Maria Markesini, auch als Pianistin bemerkenswert, bei der jeder Song zu einer intim gestalteten Geschichte wird, mit wunderbarem Humor, zu dem auch Marias blinder Begleiter am Klavier maßgeblich beiträgt: Bert van den Brink spielt wie ein von allen Grooves auch der jüngeren Jazzgeschichte aufs Schönste infizierter Bill Evans.
Kaum zu glauben, wie das alles flutscht in Rotterdam: Umbauten ohne nennenswerte Verspätungen; ein stetiger und doch die Konzerte selten störender Fluss von Menschen zwischen Bühnen, die Hudson, Volga oder Congo heißen. Entspannte Aufgeschlossenheit im Publikum, obwohl die Spielstätten eines denn doch vermissen lassen. Dass eine atmosphärestarke Umgebung auch dem Erleben der Musik gut tut, erlebt man anderswo: in Saalfelden, Südtirol oder beim „Elbjazz“ im Hamburger Hafen.