Seit Beginn des Jahres ist Peter Paul Kainrath Intendant des Klangforum Wien. Der in Bozen, Wien und Moskau ausgebildete Konzertpianist war von 2001 bis 2012 künstlerischer Leiter der „Klangspuren Schwaz“ in Tirol, ist künstlerischer Leiter des Festivals für zeitgenössische Kultur „Transart“ und des internationalen Klavierwettbewerbs Ferruccio Busoni in Bozen und war Debuty Director der Manifesta-Foundation in Amsterdam. Mit dem Klangforum Wien verband ihn bereits vor seiner Intendanz eine langjährige Zusammenarbeit.
Wir treffen uns in Salzburg im Café Bazar. Das Klangforum-Ensemble hat gerade bei den Salzburger Festspielen seine ersten Live-Auftritte seit Beginn der Corona-Pandemie in der Kollegienkirche mit Georg Friedrich Haas‘ epochalem „in vain“ bravourös und mit an Bruckners Riesen-Crescendi erinnernder Sogwirkung absolviert, eine zweite Konzertstaffel folgte unter anderem mit einer Uraufführung von Salvatore Sciarrino. Es ist voll im Café Bazar, einmal mehr fällt auf, dass – nicht nur in Salzburg – in Sachen Pandemie-Regeln mit zweierlei Maß gemessen wird. Kulturveranstaltungen ächzen unter rigorosem Regelwerk, das öffentliche Leben erfreut sich derweil fröhlicher Normalität. Kainrath ist es eigentlich zu voll im Café, aber dennoch ist er bester Dinge. „Bis jetzt war ich eigentlich ein reiner online-Intendant, denn es gab ja vorher keine Bühne, keinen Auftritt“, gibt er zu.
Seinen Start bei dem renommierten Ensemble hatte er sich natürlich anders vorgestellt. Tatsächlich war durch Corona aber nach erster Schockstarre sogar noch mehr zu tun als sonst: „Zwischen Absagen und Verschiebungen war es ganz klassisches Krisenmanagement, auch um die Kosten runterzufahren. Inhaltlich haben wir sehr viel Projektarbeit geleistet mit dem Ensemble, das war eine sehr schöne Erfahrung, wir haben Arbeitsgruppen gebildet, in denen jeder einzelne Musiker inhaltlich gefordert war. Damit haben wir Rohmaterial gewonnen, mit dem wir die nächsten Jahre arbeiten werden.“
Dass Corona neben der existentiellen Krise für die Branche auch Chancen bietet, ist inzwischen eigentlich eine längst überstrapazierte Trost-und Durchhalte-Formel. Kainrath ist dennoch davon überzeugt, dass die Krise Überlegungen vorantreibt, die ohnehin in der Luft lagen. „Ich sage immer: Wir sind ja von unserer ureigenen Ausrichtung dazu prädestiniert, das Neue zu denken. Und jetzt sind wir besonders gefordert, wirklich auf allen Ebenen neu zu denken. Es ist schon brisant, den Konzertsaal ganz anders zu denken. Eben nicht mit den sonst üblichen Parametern: wir spielen zwei Mal 45 Minuten mit Pause und alle Plätze sind besetzt. Alle diese Parameter müssen neu gesetzt werden. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Erfahrungen dieser Zeit, die mit Sicherheit noch länger andauern wird, in der nächsten Realität eine Rolle spielen werden.“
Für das Ensemble in seiner schlanken Struktur sieht Kainrath ohnehin Vorteile gegenüber wesentlich unbeweglicheren Symphonieorchester-Tankern: „Ich persönlich glaube, dass ein Ensemble wie das Klangforum momentan ein paar Möglichkeiten mehr hat als ein groß besetztes symphonisches Ensemble. Man kann etwa bei Georg Friedrich Haas‘ „in vain“ vom Klangforum eine Klangkraft erleben, die durchaus mithalten kann mit einem großen orchestralen Körper. Wir sind klanglich und von der Spielkraft durchaus eine Alternative zu einem normalen Orchester, aber klein genug, um die aktuellen Fragezeichen beantworten zu können. Wir sind flexibler, wir kosten weniger.“
Das Klangforum war im modifizierten Salzburger Spielplan relativ unkompliziert unter Corona-Bedingungen unterzubringen. „Salzburg ist extrem wichtig für uns und eine sehr solide Zusammenarbeit. In dieser schwierigen Phase hatten wir einen exzellenten Dialog.“
Auch der Spielplan in der eigenen, ausabonnierten (!) Konzertreihe im Wiener Konzerthaus wird gerade modifiziert: „Wir bauen unseren Zyklus komplett um, verkürzen das Programm, geben aber noch ein 8. Konzert dazu. Und wir spielen die Programme am selben Tag zwei Mal. Am Ende steht ein identisches ökonomische Verhältnis zwischen Auftritt und Publikum – allerdings bei noch größerem Einsatz des Ensembles als bis dato.“
Über Jahre wäre allerdings auch das eingeschränkte Programm unter weiterhin schwierigen Bedingungen kaum durchzuhalten. „Wir dürfen uns nichts vormachen, wir sind extrem gefordert, aber wir haben zumindest noch ein Dach über dem Kopf und Luft zum Atmen, damit wir denken können. Das haben andere nicht.“
Die Auftritte des Klangforum Wien in Salzburg haben eine lange Tradition, auch in Witten und Donaueschingen ist das Ensemble Stammgast und hätte 2020 ohne Corona einen vollen Tourplan mit Gastspielen bis nach Asien gehabt. Kainrath ist überzeugt von der besonderen Klasse seines Ensembles: „Weil ich noch neu bin, darf ich das wohl sagen: Diese kompromisslose Frische, und zugleich die große Rigorosität im Programm dieses Ensembles, das ist wohl einzigartig in der Landschaft der Neuen Musik. Wir sind mit einigen Komponisten ja buchstäblich zusammen groß geworden.“
Gegründet wurde das 24-köpfige Ensemble 1985 vor nunmehr 35 Jahren von Beat Furrer und ist sozusagen mit seinen Stamm-Komponistinnen und Komponisten gewachsen: „Es ist ein kontinuierlicher Erneuerungsprozess, aber mehr als die Hälfte der MusikerInnen kommt aus den Gründungsjahrzehnten. Da ist ein historisches Gedächtnis gewachsen vor allem zu jenen Komponisten, die wir jetzt als die ganz großen betrachten wie etwa Georges Aperghis, Rebecca Saunders, Olga Neuwirth, Salvatore Sciarrino, Georg Friedrich Haas, Beat Furrer.“
Für die Zukunft mit oder ohne Corona denken Kainrath, die Dramaturgie und das stets in alle Entscheidungen involvierte Ensemble an eine Erweiterung des künstlerischen Spektrums in jeder Hinsicht: „Ich glaube, die globale Welt muss auch bei uns inhaltlich in der Zukunft eine größere Rolle spielen. Wo findet man diese neuen Stimmen auch in außereuropäischen Kontexten? Da arbeiten wir gerade an einem Projekt, das perspektivisch die Weltmuseen und ihre historischen Instrumente mitreflektiert.“
Die strategische Erweiterung von Inhalten und Repertoire wird sich nach Kainraths Plänen aber auch im etablierten Musikbetrieb neu justieren und vorantasten. „Die Szene der Neuen Musik ist heiß umkämpft. Sie wird an sich nicht größer, aber in dieser Szene wollen immer mehr Akteure ihren Platz finden. Und da wollen wir nach wie vor eine Leadership-Rolle spielen. Aber ich glaube, jetzt nach 35 Jahren ist es Zeit – salopp formuliert – dass wir ein bisschen mehr in den philharmonischen Bereich vordringen. Ich bezeichne das Ensemble im Untertitel gern als das Kompetenzensemble für das Neue in der Musik der letzten 100 Jahre. Von unserer geistigen Verfassung her starten wir eigentlich bei Mahler. Und das wollen wir jetzt mehr betonen. Und mit dieser Geschichte des Neuen, die bereits 100 Jahre andauert haben wir auch interessante Anknüpfungspunkte für dieses so genannte philharmonische Publikum. Die Salzburger Festspiele haben das schon mit Gerard Mortier, später mit Peter Ruzicka und jetzt mit Markus Hinterhäuser aufgezeigt, dass es ein Publikum gibt, das diese Querverbindungen sehr schätzt.“
Gefragt nach künftigen Traumprojekten seufzt Kainrath auf: „Da gibt es sehr, sehr viel! Emmanuel Nunes ist so ein ungehobenes Potenzial. Eine Gesamtdarstellung aller Werke für Ensembles wäre ein Traumprojekt. Und ein Opernprojekt wird immer mehr und mehr zu einem wirklich großen Traum, den wir umsetzen wollen, dazu haben wir bereits sehr viel Konzeptarbeit geleistet. Wir haben eine Liste von 90 Opern der jüngeren Vergangenheit erarbeitet, die kaum aufgeführt worden sind. Wir stellen uns vor, dass unter gesetzten Metathemen einzelne Momente aus diesen Opern gegeneinander montiert werden, die dann eine Metaerzählung ergeben. Um so diese vergessenen Schätze in einem semikonzertanten Ansatz zu heben. Wir sind davon überzeugt, dass es da sehr viel extrem spannende Musik gibt, die kein Mensch mehr hört. Auch weil es zu teuer ist, eine ganze Oper aufzuführen. Wenn man aber ein Metathema findet wie etwa Todessehnsucht, und unter diesem Aspekt montieren wir etwas zusammen, dann kann das für das Ensemble eine ganz neue Perspektive sein, die weit über die Szene der Neuen Musik hinaus geht.“
Kainrath stellt sich ein Format vor, das für jedes Opernhaus mit sehr überschaubaren Kosten in Zwischenräumen implementiert werden könnte, etwa auf der Hinterbühne, an alternativen Räumen, aber doch im Opernkontext. Kainrath glaubt, damit ein Publikum zu erreichen, dass die Neue Musik schätzt, aber Opernhäuser sonst meidet.
Weiterhin aber hat das Konzerthaus Wien eine Basisfunktion für das Ensemble. „Die Zusammenarbeit mit dem Konzerthaus ist extrem wichtig, hier ist ja auch die Geburtsstätte vieler Perspektiven der Moderne, die ins Zeitgenössische geführt haben. Und dort ein Stammhaus zu haben, ist ein Glücksfall. Dennoch, wir wollen die Zone weiten! Wir sind stark und groß genug, um ein größeres Territorium zu bespielen.“
Ein weiteres Traumprojekt von Kainrath liegt in noch weiterer Zukunft: „Es gibt eigentlich keinen Wettbewerb für Neue Musik jenseits von Kompositionswettbewerben. Das ist eine Lücke, die wir bespielen wollen. Das Projekt liegt schon in der Schublade. Dieser Wettbewerb sollte im Idealfall eine Plattform sein, die starke Talente weltweit anspricht.“
Kainrath ist sich dessen sehr bewusst, dass das Klangforum Wien mit seiner festen Anbindung an das Konzerthaus und soliden Förderungs-Säulen in dieser schwierigen Zeit in einer privilegierten Situation ist. „Zum Glück spüren wir eine große Wertschätzung dieses Ensembles, sowohl in der Politik als auch beim Publikum und privaten Gönnern. Das nehmen wir als eine Pflicht wahr, wirklich nicht einzuknicken und jetzt mehr denn je neue Ideen zu lancieren.“