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Foto: ZKM/IMATRONIC
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Klassiker, Preisträger und eine Klangwalze: zum IMATRONIC-Festival des ZKM Karlsruhe

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Eine mit dem Rücken zur Kamera stehende Sängerin gibt in gleißendem Scheinwerferlicht Bizets „Habanera“ aus Carmen zum Besten – bis sich Bild und Ton plötzlich verzerren. „Alles schon mal gehört?“, flimmert es einem entgegen. Das „deutschlandweit größte Festival für elektronische Musik“ IMATRONIC hatte, wie man dem YouTube-Werbeclip entnehmen könnte, allerdings nicht nur das Neue im Blick. Man besann sich in fünf Tagen auch auf zwei zentrale Klassiker der musikalischen Avantgarde: Iannis Xenakis und Pierre Boulez.

Xenakis’ Tod jährt sich 2011 zum zehnten Mal, so dass IMATRONIC ihm mit Konzerten und einem Symposium gedachte. Boulez hingegen erhielt für seine Verdienste um die elektronische Musik den diesjährigen Giga-Hertz-Hauptpreis.

Im Gegensatz zu Festivals wie „Eclat“ (Stuttgart), „Ultraschall“ (Berlin), „Approximation“ (Düsseldorf) oder den Donaueschinger Musiktagen, wo Werke mit Elektronik zwar ebenfalls in den Programmen stehen, widmet sich das Institut für Musik und Akustik (IMA) des ZKM Karlsruhe mit IMATRONIC zum zweiten Mal in Folge explizit der elektronischen Musik. So ist IMATRONIC eigentlich ein noch junges Festival. Eigentlich – denn seine Präsentationsformen sind es nicht: Der zentrale Baustein, die Preisverleihung des Giga-Hertz- und Walter-Fink-Preises, besteht schon seit fünf Jahren. Dieses Mal wurde er ergänzt um die bereits existierende Konzertreihe „Piano+“. Letztes Jahr war diese noch separat und IMATRONIC widmete sich in einigen Konzerten dem „Akusmonium“, das Pariser Lautsprecherorchester des GRM. Nun war der Gedanke, den dicht angrenzenden Termin von „Piano+“ zu integrieren – die Konzertreihe konnte unter dem Schirm eines medienwirksamen Festivals nur gewinnen und passte sich tatsächlich auch hervorragend in den Xenakis-Schwerpunkt ein.

„Piano+“ widmet sich seit jeher den Schnittmengen zwischen Klavier und Elektronik. In fünf Konzerten wurden abwechslungsreiche Auseinandersetzungen mit dieser Überschneidung gezeigt: Michael Beils „Doppel“ (2009) für zwei Klaviere, Live-Video und -Audio ist zum Beispiel eine Reflektion über das Klavierspiel selbst – großartig "im Doppel" gespielt von Rei Nakamura und Sebastian Berweck, die, neben Catherine Vickers, Axel Gremmelspacher, Martin von der Heydt und Maki Namekawa, auch in den anderen Konzerten besonders herausstachen. Maximilian Marcolls „Samstag morgen – Berlin-Neukölln. Studie. Und Selbstportrait. Mit Hirsch“ (2007) beinhaltet hingegen die Hinterhof-Geräuschkulisse des Komponisten, von den vom Tonband eingespielten Klängen der Kühlanlage bis zur Klaviertranskription des Vogelgetzwitschers. Enno Poppes „Arbeit“ (2007) für virtuelle Hammondorgel, in der die Tastatur eines Keyboards mikrotonal umprogrammiert wurde, gibt sich dagegen mit neuartiger, fast schillernder Klangästhetik. Aber tatsächlich auch Brandneues war in die Konzerte eingewoben: Uraufführungen von Bojidar Spassov, Ludger Brümmer/Götz Dipper, Martin Iddon, Orm Finnendahl und Johannes Kreidler.

An einem Tag widmete sich „Piano+“ dann Xenakis. Die kanadische Pianistin Catherine Vickers übernahm neben der Aufführung verschiedener Werke auch dieses Jahr die Kuration der Konzertreihe und setzte alle seine Werke für Klavier Solo ins Programm – auch wenn eines davon bedauerlicherweise nicht gespielt werden konnte, bot sich ein schöner Überblick. Unter den Werken war auch selten Gespieltes, wie Xenakis’ „À.r.(Hommage à Ravel)“ (1987) oder die frühen „Six Chansons“ (1951). Letztere sind in ihrer Tonsprache gemäßigt, fast schon lieblich. Im Kontext der explosiven Werke späterer Zeit, wie die technisch äußerst anspruchsvollen Stücke „Herma“ (1960/61) oder „Evryali“ (1973) – fingertechnisch eigentlich unspielbar – wirkten sie fast schon skurril. Xenakis trennte Klavier und elektronische Komposition fein säuberlich voneinander. „Piano+“ wollte auf letztere nicht verzichten, schließlich geht es um Klavier und Elektronik – wenn auch Xenakis beide Aspekte nicht kombinierte. So wurde beispielsweise die Konzertfassung der Filmmusik „Orient-Occident“ (1960) oder „Bohor“ (1962) gespielt, eine zwanzigminütige geräuschhafte Klangwalze ohne jegliche dramatische Entwicklung. Wie Daniel Teige erklärte, müssen seine elektronischen Stücke in ohrenbetäubender Lautstärke gehört werden. Und tatsächlich: die industriellen Klänge von „Bohor“ trafen aus den 47 Lautsprechern des „Klangdoms“ mit voller Wucht. In den Stuhlreihen erlagen doch einige immer wieder der Versuchung, sich in den unendlich wirkenden 20 Minuten die Ohren zu bedecken. Man kann es niemandem verdenken. Das ging unmittelbar an die Substanz, physisch und psychisch. Großartig.

In einem Symposium wurde die Auseinandersetzung mit Xenakis weiter vertieft. Vorträge von dem ausgewiesenen Xenakis-Forscher Makis Solomos zum Thema „Der Begriff von Raum in Xenakis’ Musik“, Daniel Teige, über sein Projekt der Realisation von Xenakis’ Polytope „Persepolis“, sowie Reinhold Friedl, der sich mit Fragestellungen rund um die Vision von kritischen Editionen elektronischer Musik befasste, rundeten die Hommage an Xenakis auf theoretischer Ebene.

Traditionell begleitend zum Giga-Hertz-Preis präsentierte sich auch das Experimentalstudio des SWR. André Richards „gidif“ (1989-91), Joao Pedro Oliveiras „Angel Rock“ (2010) sowie Detlef Heusingers „Abraum II“ (2010) waren zu hören, vom Collegium Novum Zürich realisiert. Höhepunkt des IMATRONIC-Festivals waren allerdings die Preisverleihungen, bei denen die Förderung von Nachwuchskomponisten im Vordergrund steht. Zum einen wurde der von Walter Fink gestiftete Preis in Höhe von 10.000 Euro für Tanz, elektroakustische Musik und Medien vergeben, der dieses Jahr an die Choreographin Mireille Leblanc und den Komponisten Åke Parmerud ging. Sie hatten zusammen eine Projektskizze zu einer interaktiven Tanz-, Video- und Klanginstallation eingereicht. Gemeinsam mit dem Experimentalstudio des SWR verlieh das ZKM Karlsruhe im Anschluss zum fünften Mal in Folge den Giga-Hertz-Preis für elektronische und akusmatische Musik. Dieses Jahr wurden drei der insgesamt vier Produktionspreise zu je 8.000 Euro geteilt und gingen als sechs „Förderpreise“ an Eric Lyon, Andrea Vigani, Benedikt Schiefer, Anthony Tan, Aaron Einbond und Madjid Tahriri. Der übrige Produktionspreis ging an den 1943 geborenen Argentinier Horacio Vaggione. Er hatte ebenfalls eine Projektskizze eingereicht, die er wie die sechs weiteren Komponisten im folgenden Jahr am ZKM Karlsruhe beziehungsweise dem Experimentalstudio des SWR realisieren wird.

Für sein Lebenswerk erhielt im Anschluss Pierre Boulez den mit 15.000 Euro dotierten Giga-Hertz-Hauptpreis. In der Jurybegründung heißt es, er bekomme ihn „wegen seiner Verdienste um die elektroakustische Musik als Komponist, aber auch als politisch Agierender. Schließlich ist die Gründung des IRCAM und die Jahrzehnte hin erfolgreiche Arbeit dieser Instutition ihm zu verdanken.“ Unglaublich rührend war der Moment als Boulez nach einer Laudatio von Winrich Hopp die Bühne betrat – vor allem, da er entgegen aller Erwartungen einen Zettel zückte, um sich in deutscher Sprache zu bedanken. Das Geld, so Boulez, komme in seiner Stiftung zugute, die gerade im Aufbau begriffen ist und sich der Förderung der Musik von heute verschrieben hat. Aber es war nicht nur dieser eine auratische Moment auf der Bühne, der die starke Persönlichkeit und das sympathische Wesen von Boulez zeigte. Er lies es sich auch nicht nehmen an den folgenden Preisträgerkonzerten bis spät in die Nacht teilzunehmen: Bei der Aufführung seiner eigenen Werke „Anthèmes I und II“ durch das Experimentalstudio des SWR und den Violinisten Michael Barenboim sowie dem Konzert der Preisträger des letzten Jahres.

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