Kölns Operngänger atmeten auf. Etliche waren sogar hörbar begeistert: Uwe Eric Laufenberg, ein ‚Kölscher Jung’, war von der CDU-Administration des glücklosen Oberbürgermeisters Schramma aus der brandenburgischen Provinz in seine Heimatstadt zurückgeholt worden und hatte versprochen, das von Christoph Dammann und Peter F. Raddatz heruntergewirtschaftete Musiktheater wieder aufzupäppeln. Mit den ideologisch kontaminierten „Meistersingern“ trat er an. Und erzielte mit eifrigem, ja: übereifrigem Bemüh’n einen Achtungserfolg.
Laufenbergs Inszenierung beginnt vor leerer Bühne. Ein zu spät kommender junger Mann drängt sich durchs erste Parkett, telefoniert mit dem Handy und ermahnt das Publikum, die Mobiltelefone auszuschalten. Es ist Marco Jentzsch, hochgewachsen, schlank und mit schlankem Tenor begabt, der als Junker Walther von Stolzing in den Dunstkreis der Nürnberger Patriziertochter Eva Pogner gelangen will.
Doch erst einmal schließt sich der Vorhang für zehn beschauliche Minuten: Markus Stenz moderiert die Ouverture. Nicht so schnell wie Roger Norrington, der das „Meistersinger“-Vorspiel in gut acht Minuten absolviert, aber auch nicht von falscher Majestät beschwert wie bei den Kapellmeistern, die elf und mehr Minuten benötigen. Stenz präsentiert mit pauschaler Unentschiedenheit eine mittlere Lösung. Auch hinsichtlich der Intonation des im wesentlichen präzise einsetzenden und den Temponuancierungen sorgsam folgenden Gürzenich-Orchesters wird ein glatter Kompromiss angesteuert. Manche Episode wirkt ein wenig träge, doch gehen die langatmigen Erörterungen aller erdenklichen Sorten von Meistersinger-Weisen halbwegs zügig vonstatten. Der Disput des auf Freiersfüßen wandelnden Stadtschreibers Sixtus Beckmesser mit dem Schuster und Poeten Hans Sachs gerät sogar ausgesprochen agil und feinnervig. Johannes Martin Kränzle zeigt den kleinen Beamten, der sich zu Höherem berufen fühlt und heillos überfordert, so stimmig wie er ihn nuancenreich singt. Mit Gespür auch für die surrealistischen Abgründe der Partie.
Solche Qualitäten kommen Laufenbergs präzise angelegter Personenführung zu statten. Diese bewegt sich zwar fast stets in völliger Übereinstimmung mit dem offenkundigen Handlungsschema und tastet nichts Hintergründiges an. Bei Beckmessers Einschleichen in Sachsens Behausung und dem Entwenden des dort herumliegenden Manuskripts von Stolzings „Preislied“ allerdings schlägt sie eine kleine Kapriole: Der „Merker“ fischt zwei ‚Winkelemente’ aus einer Kiste des Schumachers und gibt eine kleine Slapstick-Einlage mit den Hakenkreuzwimpeln (die „Meistersinger“ haben nun eben ihre spezifische deutsche Geschichte!). Die zum dritten Aufzug eingeblendeten Film- und Video-Episoden unterstreichen dies mit zunehmender Vehemenz und greller Kostümierung. Da haben der Ausstatter Tobias Hoheisel und der Animateur Falko Sternberg des Gutgemeinten zu viel geliefert.
Doch bis dahin liegen an die fünf Stunden Meistersinger-Anlauf vor den Zuschauern. Indem sich der Vorhang zum 1. Akt wieder öffnet, zeigt sich eine neogotisch stilisierte Katharinenkirche und Nürnberger Kirchgänger aller Sorten in Kleidung, wie sie von farbkräftig restaurierten Bildern aus der Reformationszeit her bekannt ist. Neckisch balgen sich die Hunde am rechten Bildrand. Mit Stolzing, der Eva Pogner anbaggert, und dem Lehrjungen David (in Gestalt des hervorragend singenden Carsten Süß) bleibt das Gestühl in goldenem Glanz zurück. Der ins bürgerliche Milieu herabgekommene Adlige, der um des Fortkommens seiner Liebe auf den ersten Blick willen plötzlich ein Meistersinger werden möchte, fotografiert mit seinem Handy nicht nur die hierfür bestens geeignete Sopranistin Astrid Weber, sondern auch die Regeln für die volkstümlich-kunstvolle Gesangspraxis der Handwerksmeister.
So ist im Ambiente, das wie eine Parodie auf „Meistersinger“-Inszenierungen früherer Jahrzehnte anmutet, eine Brechung angelegt. Zumal, wenn zum Aktschluss der Vorhang, auf den die Hinterfront des Kirchenschiffs gemalt wurde, herunterfällt und den Blick auf das Gerüst mit Scheinwerfern und Projektoren freigibt.
Letztere gelangen im 3. Aufzug forciert zum Einsatz. Doch zuvor rückt die Inszenierung durch Wechsel der Kostüme und der Häuserfassaden aus der Zeit des Reformationslehrstückdichters Hans Sachs in die Biedermeier-Ära: Bieder in jeder Hinsicht gerät die Intrige, die da am Vorabend des Johannistags eingefädelt wird zwischen Sachsens schmuck-ahistorischem Häuschen und dem wie ein Tresor sich erhebenden Domizil des Goldschmieds und Bürgermeisters Pogner (geschätztes Vermögen: 3,65 Milliarden €). Den Widerstreit der Interessen jener lauen Nürnberger Nacht lässt Textdichter und Komponisten Wagner bekanntlich in die (humoristisch gemeinte) „Prügelfuge“ münden – Laufenberg in einen Rummel: Die angetrunkenen bzw. schlaftrunken ihren Betten entsteigenden Bürger fangen nicht untereinander Raufhändel an, sondern geraten mit den zunehmend zahlreicher aufziehenden (und vorsorglich mit Karabinern ausgerüsteten) Schutzleuten aneinander, die in die Menge feuern, welche hinter einer lächerlich niedrigen Barrikade Schutz sucht. Der Nachtwächter kehrt als Sensenmann wieder. Womit Uwe Eric Laufenberg nicht nur auf Richard Wagners Beteiligung an der Dresdner Revolution von 1849 anspielt, sondern zugleich auf Alfred Rethels Holzschnittfolge „Auch ein Totentanz“. Der Chor besteht die Bewährungsprobe der Einsätze im Gefecht – nicht ganz ohne Schrammen.
Die Film- und Videoeinblendungen zum letzten Akt, bei dem zunächst das Innere der Behausung von Sachs nach der Mode der 70er-Jahre ausgestattet ist, zitieren mehrere historische Ebenen herbei: Indem sich der vor dem Kölner Opernhaus liegende, von 4711-Haus und Bauzaun begrenzte Offenbachplatz als Ersatz für die Nürnberger „Festwiese“ eröffnet, wird an die Nachkriegsgeschichte der weitgehend bombenzerstörten Domstadt erinnert (und – beiläufig, aber mit didaktisch klarer Intention – an die davor liegende „dunkle Zeit“). Wie der Stadtrat von Kölle ziehen die Meistersinger live auf der Bühne ein zur Casting-Show, zugleich aus der Perspektive einer Handkamera vergrößert und „nahegebracht“ ins halb virtuelle Opernhaus auf der Opernhausbühne (schon vor elf Jahren war der Offenbachplatz Hauptdarsteller in einer von Günter Krämer und Gottfried Pilz gestalteten Produktion von „Hoffmanns Erzählungen“).
Überhaupt nimmt Laufenberg selbstreferentiell auf die Geschichte der Kölner Oper Bezug: Eingeblendet wird auch die unsägliche Festwiesen-Fröhlichkeit einer früheren „Meistersinger“-Inszenierung, der Chor dazu auf den Bierzelt-Garnituren bestens in Position gebracht. Er schwillt in lokalstolzer Pracht. Mit der finalen Mahnung des alten Überlebenskünstlers Hans Sachs – des mit wunderbar charakteristischer Bassstimme dominierenden Robert Holl – eskaliert der überbordende Bild-Parcours zu deutscher Geschichte und mit deutschen Meistern: nach Rückblenden auf Hitler in Köln und Konzentrationslager beginnt die Galerie bedeutender Köpfe bei Kölnern wie Kagel und Stockhausen, greift dann hinaus auf Thomas Mann und Dietrich Genscher, Rudolph Moshammer, Thomas Gottschalk oder Guido Westerwelle.
Mit der „Verkölnung“ des Werks ist der neue Kölner Intendant dem örtlichen Publikum weit entgegengekommen (möglicherweise intendierte ironische Nebenwirkungen gehen im Bildertrubel unter). Beherzigt wurde freilich die Gattungsbezeichnung „Große Komische Oper“. Als Leitmotiv der Inszenierung zeigt sich immer wieder die Parole „Oper für alle“ und hüllt das Werk so in eine auf die entwickelte Medien-Demokratie zulaufende Geschichtsfolie. Die Kölner „Meistersinger“ sind in der besten aller denkbaren Staatsformen und der sich notorisch an sich selbst betrinkenden Stadt angekommen. Das ist neuer bürgerlicher Realismus.
Mit seiner aufwändigen Einstandsinszenierung zielte Laufenberg auf Vergegenwärtigung, welche die Geschichtlichkeit des Werks wahrnimmt. Freilich kolportierte er dabei (schlecht strukturiert) so viel Restmüll, dass ein guter Teil der Modernisierungsbemühung wieder neutralisiert erscheint. So passt sich der Kompromisscharakter der Szene dem der musikalischen Interpretation an: Köln hat einen „Neuanfang“ bekommen, der wesentlich das Gehabte fortschreibt – das, was den Abstieg ins Provinzielle ausmachte.
Zu dem gehört nicht zuletzt der GMD Stenz. Ein Ende von dessen antimodernem Wirken vor und hinter den Kulissen ist nicht abzusehen und wird fortdauernd ein Problem bleiben. Selbst wenn Uwe Eric Laufenberg Besseres im Sinn hätte.