Ganz ohne Wagner geht es offenbar an Daniel Barenboims Haus nicht, selbst bei einer seltenen Operette: Zur offenen Verwandlung in den zweiten Akt von „L’Etoile“ erklingt nicht nur Emmanuel Chabriers Zwischenspiel, sondern auch eine entsprechend orchestrierte Bearbeitung seiner Quadrille „Souvenir de Munich“, in der Chabrier seine „Tristan“-Eindrücke tänzerisch verarbeitet.
Während das Staatsopernpublikum die Hirtenweise aus dem dritten Akt offenbar nicht gleich wiedererkennt, erfolgt ein Schmunzeln beim wiederholten, rhythmisch schwungvoll veränderten Beginn des Liebestodes. Dann allerdings bricht die Quadrille ab, wohl weil deren hinreißendes Ende, das Finale des ersten „Tristan“-Aufzuges als Cancan, von der nachfolgend fortgesetzten „Etoile“-Partitur selbst nicht zu toppen ist.
Tatsächlich konnte sich der 1841 geborene Emmanuel Chabrier als bekennender Wagnerianer leichter als seine Komponistenkollegen aus dem Dunstkreis des Bayreuther Meisters befreien. Seine 1878 am Théatre des Buffes-Parisiennes, der Triumphstätte Offenbachs uraufgeführte Opéra bouffe en trois actes brachte es daselbst auf 48 Aufführungen (was damals wenig war) und erlebte ein knappes Jahr später im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater Berlin, dem heutigen Deutschen Theater, ihre deutsche Erstaufführung. Nachdem es dann lange eher still war um diese Operette der besonderen Art, erlebt sie seit einigen Jahren zahlreiche Wiederaufführungen, nun auch erstmals an der Staatsoper Berlin.
Hatte Catulle Mendes, der Ehemann von Wagners Geliebter Judith Gautier, Chabrier mit „Gwendoline“ ein Libretto beschert, welches fast ausschließlich mit Wagnerschen Topoi arbeitet, so ist das skurril-witzige Libretto von Eugène Leterrier und Albert Vanloo frei von solchen erschwerenden Vorlagen und antizipiert deutlich Alfred Jarrys „König Ubu“. Hier heißt der König Ouf, und der will täglich an seinem Geburtstag zur Volksbelustigung eine Exekution durchführen, findet aber keinen Aufständischen. Daher erwählt er den fremden Hausierer Lazuli, welcher ihn, als unerkannten lästigen Frager, ohrfeigt. Lazuli soll gepfählt werden. Der aber hat sich in eine vorgeblich verheiratete Frau verliebt, die realiter die Prinzessin Laoula und für König Ouf bestimmt ist. Da der königliche Astrologe Sirico prognostiziert, dass Ouf laut Horoskop einen Tag nach Lazuli sterben werde, findet die Hinrichtung nicht statt. Im Gegenteil: Lazuli wird im Palast verwöhnt, flieht aber und scheint ertrunken, taucht dann doch wieder auf und erhält schließlich auch seine Geliebte. Das Sternbild hat ihn gerettet.
Diese durch allerlei Verwicklungen zwischen Diplomatie einerseits und Ouf und seinem Astrologen andererseits zusätzlich verwirrte Geschichte hat Chabrier in adäquat witzige Musik getaucht, die ihrerseits mit Zitaten und Absurditäten ein musikalisches Spiel treibt. Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, ist ein Garant für die zündende Interpretation von Witz und Ironie, und die bestens aufgelegte Staatskapelle wirkt auch szenisch mit: während eines Dialogs im ersten Akt stehen alle Instrumentalisten auf, wenden sich zum Bühnengeschehen und reagieren zweimal mit dem Ausruf „Oh!“.
Durchaus gekonnt und auf Pointen setzend, siedelt die Inszenierung des amerikanischen Sängers und Regisseurs Dale Duesing die Sterne-Story heute in einem zweistöckigen Hotel mit dem Lichtschriftzug-Namen „L’Etoile“ als Einheitsspielort an (Ausstattung Boris Kudlicka und Kaspar Glarner).
Prominent und erstklassig ist die Sängerbesetzung: Magdalena Kožená in der Hosenrolle des verliebten, durch Pfählung bedrohten Lazuli, Juanita Lascarro als feministisch selbstbewusste Prinzessin Laoula, deren Stimmen sich mit Stella Doufexis als Diplomatenfrau Aloès, welche mit Tapoica, (Florian Hoffmann), einem Mitarbeiter ihres Gatten (Douglas Nasravi) fremd geht, auch zu einem herrlichen, erotischen Stöhnduett der Paare fügen. Hinreißende Rollenstudien bieten der Bariton Giovanni Furlanetto als Astrologe Siroco, dessen Überleben per Dekret an das Leben des Königs gebunden ist und der kleine, quirlige Tenor Jean-Paul Fouchécourt, der sich als skurriler König Ouf singend und spielend sein Publikum erobert. Der präzise singende und Chabriers tänzerische Pointen körperlich exakt umsetzende Chor der Staatsoper (Einstudierung: Eberhard Friedrich) tun ein Übriges für eine Top-Produktion.
Und dennoch, trotz aller Perfektion und Spielfreude, hinterlässt die letzte Premiere im Haus der Staatsoper, vor dem Umzug ins interimistisch zum Opernhaus hergerichtete Schiller-Theater, schräg gegenüber von der Deutschen Oper Berlin, einen zwiespältigen Eindruck. Und dies hängt offenbar zusammen mit der Topik des Ortes. In der Staatsoper Unter den Linden wird Chabriers Komik ernst genommen, wird seine komödiantische Partitur hochwertig aufbereitet und obendrein mit Starglanz aufpoliert, – aber theatralisch gesehen gehört diese köstliche Petitesse mit ihren gesprochenen Dialogen nicht in die Staats-, sondern in die Komische Oper, auch wenn die Besucher dort auf den brillanten Klang des französischen Originals verzichten müssten.
Das Staatsopernpublikum war anfangs durchaus irritiert, und so verließen mehrere Besucher während der knapp zweistündigen, pausenlosen Aufführung den Saal. Am Ende aber goutierten die Premierenbesucher das, was groß und teuer ist, mit entsprechendem Zuspruch.
Weitere Aufführungen: 16., 19. 23., 27. 30. Mai 2010