Erst nachträglich, nach Beendigung der Konzeption mit dem bildenden Künstler Daniel Richter – so war auf der Pressekonferenz bei den Salzburger Festspielen zu vernehmen –, fiel durch den Dirigenten Marc Albrecht die Entscheidung, nicht den ursprünglich vorgesehenen zweiaktigen Torso, sondern auch den von Friedrich Cerha fertig gestellten 3. Akt zur Aufführung zu bringen. Also wurden zusätzliche Sängerdarsteller verpflichtet und der Vorstellungsbeginn um eine Stunde vorgezogen. Die bildliche Konzeption blieb jedoch unverändert, d. h. für den Paris-Akt wurde kein zusätzliches Bühnenbild mehr eingefügt. Dies führte zu einer eindrucksvollen Lösung, dem Spiel inmitten der Zuschauer.
Von der Felsenreitschule, mit ihrer Mischung aus Natur und den für alle Inszenierungen an diesem Ort die Rückwand bildenden Arkaden, ist in dieser Produktion nichts zu sehen; eine vergleichsweise schmale Guckkastenbühne ist auf den Platz der einstigen Tierschaukämpfe gestellt. Der Tierbändiger, hier eigentlich am rechten Ort, schlüpft durch einen farbig gestreiften Bühnenvorhang, doch von den behaupteten Raubtieren (die sich den Protagonisten des Spiels zuordnen lassen) greift nur Lulus nackter Arme als Schlange zwischen seine Schenkel.
Das Porträt, welches der Maler Schwarz von Lulu anfertigt, ist raumfüllend, doch fehlt der Bezug zu der in weißer Wäsche mit Engelsflügeln Modell stehenden, rothaarigen Kindfrau. Der betrogene Medizinalrat erwischt Maler und Modell in Flagranti und stürzt tot auf ein Podest. Im zweiten Bild erweist sich das enthüllte Podest als ein Sitzmöbel, wirkungsvoller als wippendes Sitzobjekt dient jedoch ein riesiger, silberner, luftgefüllter Phallus. Arbeit ist für den Maler und die zu seiner Frau gewordene Lulu offenbar Yoga-Paxis. Bei all ihren Besuchern geht Lulu, ähnlich direkt wie in Calixto Bieitos Inszenierung in Basel, sofort zu Sexpraktiken über („Wo ist ihre Energie?“ fragt sie Dr. Schön, während sie an sein Geschlecht fasst.)
Dass die Regisseurin Vera Nemirova derzeit Richard Wagners „Ring“ in Frankfurt inszeniert, mag der Grund dafür sein, dass auch in dieser Inszenierung ein Ring das wichtigste Requisit ist: mit den Worten „Jetzt bin ich reich“, streift Lulu den Ring von der Hand des toten Medizinalrats und wird ihn später jeweils den Fingern ihrer Gatten anstecken.
Die Rückseite des Lulu-Porträts ist eine blutbefleckte Spiegelwand, in der sich das angeleuchtete Publikum sieht, denn das dritte Bild spielt in einer Theatergarderobe, in die außer dem vorgeschriebenen Personal auch ein blauer Kentaure mit mächtigem Phallus eindringt. Im Gegensatz zum gar nicht clochardhaften, sondern auf mondänem Fuß lebenden, virilen Schigolch, ist der Prinz (Heinz Zednik) ein wirklicher Greis. Zur Pause senkt sich ein Prospekt gemalter Zuschauergesichter in Neonfarben vor die Szenerie, der bis zur Winterwaldlandschaft des Londonaktes beibehalten wird. Anstelle des bürgerlichen Raums mit Galerie und mehreren Türen prangt davor eine schwarze Lackpyramide mit vier Fenstern. Mit dem endlich geehelichten Doktor Schön tanzt Lulu nun während ihres Dialoges Gesellschaftstanz. Die Schar ihrer Sexpartner – Gräfin Geschwitz, Schigolch, Athlet Rodrigo, Alwa und der gleich unter Lulus Rock schlüpfende Gymnasiast – erweitert die Regisseurin um sieben namenlose Männer: rot geschminkt und halbnackt, wirken sie zunächst wie Würmer und schlagen so den Bogen zum Mythos, zur Büchse der Pandora, – wie ja der Titel des zweiten Teils von Wedekinds Drama ist.
Nachdem Lulu ihren Gatten erschossen hat und das Drama zum Scheitelpunkt gelangt, wird kein Film eingesetzt, sondern Zeitungsleser dienen als Zeitraffer; ab dem Spiegelpunkt der von Berg um eine Zentralachse gespiegelten Musik laufen sie rückwärts.
Nach der zweiten Pause dann das Spiel im Zuschauerraum der Felsenreitschule, wobei Texte aus der ersten Szene zunächst mehrfach wiederholt gesprochen werden, bevor das Orchester einsetzt. Die Gesellschaft des Spiels wirft 500er-Geldnoten ins Publikum („Kolossal, wo das viele Geld herkommt!“), Lulu verhandelt mit dem sie erpressenden Athleten per Telefon, und vor dem Auftritt Schigolchs wird ein improvisierter Dialog eingeschoben.
Die umgekippte Pyramide wird im Schlussbild zur Behausung der Straßendirne, und Alwa fährt als Zeichen seiner fortgeschrittenen Geschlechtskrankheit in einem verchromten Rollstuhl. Die toten Partner Lulus (mehr oder weniger als solche erkennbar) kehren als Freier wieder; sehr formal begegnen sich Dr. Schön – alias Jack the Ripper – und Lulu von den beiden Seiten der breiten Bühne, aber Jacks Mord an Lulu verzichtet auf Psychologie und bleibt äußerlich. Gräfin Geschwitz, die Prints von einem Ausschnitt des Lulu-Bildes als Geschenk mit nach London gebracht hatte, richtet ihr letztes Liebesbekenntnis aus dem dunklen Zuschauerraum an die ferne Geliebte.
Zu leidenschaftlich intensivem Spiel, inklusive Fellatio und Cunnilingus, wird auf sehr hohem Niveau gesungen. Patricia Petitbon, die im Vorjahr in Salzburg als Despina und mit einem szenischen Liederabend für Aufsehen sorgte (siehe nmz online), gestaltet die Titelpartie mit girrenden Flötentönen; Intonationsrein, mühelos und stets textverständlich, schlägt sie sich sogar in den (geringfügig gekürzten) gesprochenen Dialogpassagen wacker und gleitet, mit tätowierten Flügeln auf Oberkörper und Rücken, wie eine gläserne Folie inmitten der sehr direkt umgesetzten Männer- und Frauenphantasien, durch die Handlung. Hervorgehoben seien der Bariton Michael Volle als Dr. Schön in schleichendem Verfolgungswahn, der Tenor Thomas Piffka als sein Sohn Alwa und alter Ego des Komponisten, Thomas Johannes Mayer als auch stimmlich kraftprotzerischer Athlet und Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Geschwitz, mit Belcanto im dramatischen Alt.
Marc Albrecht hat den Zwölftonklassiker mit den Wiener Philharmonikern im nur halb abgefahrenen Orchestergraben zu einem postromantischen Klangerlebnis gesteigert, hat sehr breit auskostend nicht nur Bergs Hauptthemen, sondern auch zahlreiche Nebenthemen individuell plastisch herausgearbeitet. Die Variationen des im dritten Akt von Berg zitierten Wedekindschen Lautenliedes („Lieber wär’ ich eine Hure“) werden zu einer Idee fixe mit Klammerfunktion, verblüffend prägnant der Einsatz des unsichtbaren Bühnenorchesters. Erstmals werden – dank erfolgreicher Suche nach entsprechenden Instrumenten – auch jene drei Violinen hörbar, die der Komponist der Jazzband im ersten Akt zugeordnet hat: denn die Violinisten des Upper Austrian Jazz Orchestra spielen mit den von Berg vorgeschriebenen Schalltrichtern.
Nach Viereinviertelstunden dann volle Zustimmung des Publikums – bis auf einen einsamen, hartnäckigen Buhrufer gegen den Dirigenten.
Weitere Aufführungen: 4., 6., 11. , 14., 17. August