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Neurotische Verängstigung, diskret illuminiert: „The house taken over“ von Vasco Mendonça in Aix. Foto: Patrick Berger/ArtcomArt
Neurotische Verängstigung, diskret illuminiert: „The house taken over“ von Vasco Mendonça in Aix. Foto: Patrick Berger/ArtcomArt
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Konservative Pilotfunktion für die Opern-Durchreiche-Bruderschaft: ein Resümee zum Festival 2013 in Aix-en-Provence

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Die der Oper und dem Konzert gewidmeten Sommerfestspiele in Aix-en-Provence erweisen sich derzeit als nach nachhaltigste Festival in der Luxus-Kategorie. Aix mag östlich des Rheins – aber dies ist wenig verwunderlich – nicht so viel mediale Aufmerksamkeit genießen wie Salzburg, das im deutschsprachigen Raum nach wie vor erste Adresse ist, oder gar wie Bayreuth, das zwar nun schon im zweiten Jahrzehnt in Folge kaum mehr durch künstlerische Leistungen hervorsticht, sondern nurmehr durchs Drumrum – durch Kinderprogramme sowie durch politische Gesinnungsbekundungen und erheiternde Unprofessionalität von Mitwirkenden.

Bernard Foccroulle, Intendant in Aix, fährt einen strikt anderen Kurs als die Halbschwestern auf dem Grünen Hügel in Oberfranken. Durch die „Acádemie européenne de musique“ wird insbesondere auch für das Festival de Lyrique Sänger-, Regisseurs- und Komponisten-Nachwuchs herangezogen, der das Musiktheaterhandwerk gründlich erproben kann. Der Nachteil dieser südfranzösischen „école normale“ ist, dass die Kreativität der Eleven in allzu geordnete Bahnen gelenkt wird.

Mozarts als Kitt

Wie die Festspiele in Salzburg und in Glyndebourne, so wurde das sommerliche Festival in Aix vor Jahrzehnten wesentlich zum Zweck der Mozart-Pflege ins Leben gerufen: Mozart, fein instrumentiert, sollte und will als Bindeglied des „Europäischen“ funktionieren und glänzen. Wie anderswo, gibt es auch in Aix den „roten Faden“ eines „work in progress“. Heuer kam in der Provence zwar keine Mozart-Neuproduktion auf der Bildfläche, aber immerhin die mit Spannung erwartete Überarbeitung des vor drei Jahren von Dmitri Tcherniakov inszenierten „Don Giovanni“. Die Neueinstudierung mit einem weitgehend neuen Sänger-Team hob die Aspekte der Langeweile in der Welt der russischen Neureichen, die sichtbaren Folgen des Drogen- und Alkoholmissbrauchs sowie das Verenden des „dissoluto“ an seinem eigenen Lebens- und Welt-Ekel noch stärker hervor.

In allen wichtigen Partien war umbesetzt worden und nicht durchweg zum Vorteil der Produktion (z.B. Rod Gilfry statt Bo Skovhus in der Titelpartie, Maria Bengtsson statt Marlies Petersen als Donna Anna). Das vor drei Jahren als informeller historischer Informant mit Louis Langrée aufgebotene Freiburger Barockorchester wurde nun durch das unter Marc Minkowski in Karl-Böhm-Tradition aufspielende London Symphony Orchestra ersetzt.

Schöne und schreckliche Gefilde der Vergangenheit

Francesco Cavallis „Elena“ von 1659 mit Emöke Baráth in der Titelpartie wurde von Leonardo García Alarcon nach den Quellen und den derzeitigen Konventionen der historischen Aufführungspraxis aufbereitet für ein profund generalbasslastiges Ensemble (den Continuo-Instrumenten – drei Cembali, einem Orgelpositiv sowie fünf Vertreterinnen der Lauten- und Gamben-Familien sitzen nur zwei Violinistinnen und zwei Blockflötenspieler gegenüber). Die szenische Realisierung des Plots, der einen der antiken Berichte über die Jugend der nachmals noch einmal entführten schönen Helena mit dem Theseus-Sagenkreis kompilierte, wurde vom Regie-Quereinsteiger Jean-Yves Ruf – ein Beispiel für die erwähnte Lenkung der Kreativität – allzu interlinear und brav inszeniert.

Ästhetisch verhalten wirkte auch die Uraufführung der auf einer lateinamerikanischen Novelle basierenden Kammeroper „The House taken over“ des jungen Komponisten Vasco Mendonça (Inszenierung: Katie Mitchell). Da geht es um zwei abgeschottet von der übrigen Welt im Elternhaus lebende, zunehmend verängstigte Geschwister – um so etwas wie Familienanamnese: Angesichts von etwas Spuk im Haus ziehen sie sich aus einem Zimmer nach dem anderen zurück. Am Ende ist es im kleinen Flur vor der Haustüre nicht mehr auszuhalten. Mit der eskalierenden Beunruhigung der beiden Protagonisten und der Einschränkung ihres Lebensraums bietet die Partitur von Mendonça Räume für mancherlei Stimmungen und stimmtechnische Facetten. Hörbar zum Beispiel beim finalen Aufbruch des Geschwisterpaars in ein neues Leben. Sanft-beschauliche neue Kammer(opern)Musik, die neurotische Verängstigung und inzestuösen Schrecken diskret illuminiert – oder auch heftigere.

Den Schlusspunkt der Opernpremieren setzten Esa-Pekka Salonen und Patrice Chéreau mit der „Elektra“ von Richard Strauss: Imposant, wuchtig – und mit stärkeren Spuren der Anstrengung wurde die Intensität des Rachebedürfnisses im Kontext der ziemlich teutonischen Musik vorgeführt. Richard Peduzzi entwarf für Chéreau einen hermetischen Hof in zeitloser Herrschaftsarchitektur und der Regisseur ließ seine Protagonisten agieren, als gälte es, einen expressionistischen Stummfilm nachzuerzählen. Evelyn Herlitzius triumphiert in der Titelpartie mit hysterischem Potential, wilden Gesten und Tänzen; Waltraud Meier profiliert sich als distinguierte mörderische Mutter Klytemnästra. Der szenisch-musikalische Überwältigungsversuch wurde mit Ovationen honoriert.

Vatertage

Gerhard Rohde, auch so ein ewig reisender deutscher Kritiker, bemerkte einige Minuten nach Mitternacht in der Académie de la Bière, die schon einige Jahre so nicht mehr heißt, aber noch immer den schönsten Ausblick auf die Place de Gaulle erlaubt (derzeit wieder Rotonde genannt), dass 2013 in Aix ein Opernjahrgang der Väter stattfand. Dies trifft zu. „Rigoletto“ stellt eine Vaterfigur in den Mittelpunkt – eine mehr als unzulängliche. Im „House taken over“ spukt der Geist des womöglich ebenfalls gegenüber der Tochter übergriffigen Vaters, lässt Türen ins Schloss und Bücher aus dem Regal fallen. Don Giovanni hätte womöglich kein so abgründiges Ende genommen, wenn der sehr leichtfertige junge Edelmann mit dem Commendatore, dem einflussreichsten der Väter seiner zahlreichen Flammen, umsichtiger umgesprungen wäre. Die altgriechische Helena konnte wohl nur dergestalt Flurschaden anrichten, weil sie nicht nur kuhäugig schön und im gesamten östlichen Mittelmeerraum heiß begehrt war, sondern dank der Vaterschaft des in Schwanengestalt agierenden Zeus wenigstens halbgöttlich und von daher Zankapfel unter den olympischen Göttinnen war. Der tote Vater Agamemnon schließlich war das Über-Ich Elektras, die Motivation der frenetischen Rachegelüste und Auslöser der Liquidation von Mutter Klytämnestra samt deren Liebhaber Aegisth.

Dass sich fünf Werke so thematisch sinnvoll zusammenfügen, verdankt sich in Aix nicht dramaturgischem Weitblick, sondern dem Zufallsprinzip. Das Programm kommt zuallerletzt nach künstlerischen Kriterien zustande. Das Musik- und Opernfestival in der Provence ist seit Jahren Knotenpunkt der weitgehend konflikt- und kritikfreien Ästhetik sowie Verschiebebahnhof für Produktionen, die bei den konservativen Blöcken der Geschmacksträgerschicht Akzeptanz finden. Das, was in dieser Kasserolle gedämpfelt wird, kann und soll als „Koproduktion“ grenzüberschreitend weitergereicht werden.

Die Kunst des Verschiebens

In der Saison 2013/14 kommen in Aix kreierte Produktionen als Übernahmen nach Mailand, Moskau, München, Lissabon (zwei Stücke), Luxemburg, Antwerpen, Gent, Brüssel, Brügge, Strasbourg (ebenfalls zwei Stücke), Montpellier, Angers, Rennes, Versailles, Paris, Lille, Genf und Bahrein (das Theater an der Wien wurde schon zum Saisonschluss 2012/13 mit George Benjamins Oper „Written on Skin“ bedient, die Katie Mitchell im vergangenen Sommer in Aix inszenierte). Das heißt: in wenigstens 20 Fällen wurde allein durch das segensreiche Wirken von Bernard Foccroulle & Co. die auf theaterkünstlerische Konzeptionen gerichteten Anstrengung, die Verpflichtung von Regie-Teams, die Arbeit von Werkstätten etc. eingespart. Die Pfiffigkeit der auf hochbezahlten Intendanten-Sesseln sitzenden Sparkommissare hat längst zu einer drastisch bemerkbaren Verarmung, Verödung und Verblödung des inhaltlichen Angebots geführt.

Strategischer Vorschlag: Es werden, betreut von Bank- und Unternehmens-Stiftungen, europaweit pro Saison nur noch je vier oder fünf neue Produktionen für die großen, die mittleren und die kleinen Bühnen produziert (selbstverständlich ohne lästige und teure Tarifverträge) und diese dann von ukrainischen LKW-Fahrern unter niederländischer Flagge und monegassischer Besteuerung herumgekarrt. Nur die Intendanten- und Hausmeisterjobs bleiben als feste Arbeitsverhältnisse erhalten. Denn auch weiterhin werden die alerten Frühstücksdirektoren benötigt, die den zuständigen politischen Gremien, den Medien und den Besucherorganisationen unverdrossen vorschwatzen, es werde allemal „Theater für die Stadt“, die Region und überhaupt „especially for you“ gemacht. Und es braucht – daher die Hausmeister – ein paar Leute, die am Ende das Licht ausknipsen. Gut, dass die Mitglieder der Opern-Durchreiche-Bruderschaft keinen hippokratischen Eid auf das Wohlergehen des Musiktheaters ablegen müssen.

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