An Wagner-Aufführungen in den Opern- und Festspielhäusern ist heuer kein Mangel. Die Werke Richard Wagners werden landauf und landab „gedeutet“ und ausgebeutet – von den „Feen“ bis zum „Parsifal“. Also muss, wer immer im Überangebot Aufmerksamkeit erregen oder gar eine Spur hinterlassen möchte, markante marktgängige Ideen bieten.
Dies meint zuvorderst: einprägsame Bilder setzen und/oder möglichst auch musikalisch Alleinstellungmerkmale entwickeln. Um der ersten Anforderung Genüge zu tun, ließ Vera Nemirova ihren Bühnen- und Kostümbildner Klaus W. Noack für den zweiten und dritten Akt der 1865 in München uraufgeführten „Handlung“ ein Gewächshaus auf die Bühne bauen – in Anspielung auf ein Gedicht der Züricher Fabrikantengattin Mathilde Wesendonck, das Wagner beziehungsreich in Musik setzte.
Als optisch-musikalischen Leckerbissen wartete Opernbonn auf Dara Hobbs. Allerdings vergeblich. Der musikalische Leiter der Premiere, GMD Stefan Blunier hatte die lädierte Stimme der nordamerikanischen Protagonistin zu kompensieren, die auch schon in Minden, Mönchengladbach und am Main erfolgreich auftrat und vom hellwachen Feuilleton mit superlativistischem Vorschusslorbeer bedacht worden war. Die bedeutendste aus Bonn-Kessenich stammende Kritikerin aller Zeiten hatte mit ihrer Frankfurter Allgemeinen Werbetrommel die Sopranistin als die Sängerin angekündigt, „auf die wir lange gewartet haben: mit einer orgelnden Tiefe und einer satten Mittellage und einer mühelosen, engelstrompetengleichen Durchschlagkraft in der Höhe“.
In Bonn beschränkte sich die himmlische Trompetenpausbackenkraft auf den irdisch-handgreiflichen Umgang mit dem „hehrsten der Helden“. Sie rückt Tristan zunächst mit rachelüsternem Kussmund zu Leibe, dann mit dem stark verwässerten Wunsch eines gemeinsamen Suizids, der aber umschlägt in Begehren, Sehnen, Verlangen und all das andere, was rotgoldblonde Liebe richtig heiß macht. Hobbs musste sich darauf beschränken, ihre dominante Rolle zu mimen. Statt ihrer sang Sabine Hogrefe, sehr kurzfristig einspringend, von der Seite – kompetent, nobel, so gar nicht exzessiv und mit Anflügen von mütterlicher Wärme. Dergleichen Persönlichkeitsspaltung auf der Bühne sorgt für einen eigentümlichen Reiz.
Ziemlich zu Anfang fragt die irische Prinzessin Isolde, die aus politischen Gründen mit dem südwestenglischen Regionalkönig Marke verheiratet werden soll und von dessen erstem Offizier Tristan per Schiff nach Cornwall transportiert wird, ihre Kammerdame: „Brangäne, sag, wo sind wir?“ Daniela Denschlag, ausstaffiert mit Nickelbrille wie eine Gouvernante des Jahres 1865, könnte wahrheitsgemäß antworten: in einem niederrheinischen Stadttheater. Sie singt mit bestechend aufmerksamer Stimme, wie Wagner es vorschrieb: „Blaue Streifen stiegen im Westen auf“. Sie versucht ihre Chefin damit von der misslichen Situation, in der diese sich befindet, abzulenken. Was aber, wie rasch zu hören, nicht gelingt. Die hieb- und stichfeste Braut simuliert outrierend den wuchtigen Stimmeinsatz, an dem (wie der Intendant ankündigte) sie eine Pollenallergie hindert. Ihre Mimik scheint unmittelbar den Stummfilmen Friedrich Zelniks entsprungen. Sie reist offensichtlich mit robustem Mandat in die neue Heimat, residiert wie eine supergermanische Verheißung in und neben einem in weiser Voraussicht aufgestellten Krankenbett.
Die etwas konfuse Kulisse erinnert mit einem Mast an die Seefahrt früherer Zeiten und mit ramponierten seitwärtigen Gebäuden an Lagerhäuser im Stadium verwesender Rentabilität, zugleich irgendwie an „Verwundungen“, die ja Gebäuden wie Menschen zuteil werden können. Von den Fenstern der Stapelhäuser aus spenden die Choristen dem jungen Seemann, der mit Isoldes Brautkleid seinen Schabernack treibt, Beifall. Die Frage, wo sich die Akteure auf der Bühne und die Zuschauer be-finden, lässt sich also dahingehend beantworten: Noch auf dem Deck und schon im Hafen, also auf dem Weg und schon am Ziel.
Dass dies nicht eben handlungslogisch erscheint, darf man beim RegisseurInnen-Theater nicht kleinlich sehen. Denn irgendwie geht es ja exzessiv um „Inneres“ – und das schert sich bekanntlich um die Zeit, die hier zum Raum wird, einen Dreck. Das ist auch beim Wassereinsatz der Fall: der vermeintliche Todestrank, den sich Isolde und Tristan gemeinsam genehmigen, kommt aus einer Volvic-Flasche, wird aber zu mehr als 95 Prozent verschüttet – fraglich also, ob die vermutete toxische Wirkung für einen gemeinsamen Suizid ausgereicht hätte. Da es sich nun freilich um einen kalorienfreien Liebestrank handelte, demonstrierte die Regisseurin Nemirova lediglich, dass zwei gesunde Menschen in den besten Jahren sich notfalls auch ohne Psychopharmaka verlieben und Sex haben können. Wer hätte das gedacht.
Das vom Zahn der Zeit angenagte Treibhaus, das sich vom Beginn des zweiten Aufzugs an auf der Bühne dreht, begünstigt die Transparenz der eskalierenden Liebe: es erweist sich als günstig für das Triebleben der Seelen und Körper wie für die Triebkraft der Pflanzen und Klänge. Etliche Scheiben sind geborsten. Das Bett vom Schiff (die Royals müssen offensichtlich sparen!) ist mitgekommen und steht zu-nächst neben einem Weiden-Stummel, an den ein Dutzend Liebesbotschaften oder Erinnerungszettel geheftet wurden. Und die vielen Kerzen auf dem Boden erinnern an die Trauerkultur, die heutzutage überall dort organisiert spontan sich zeigt, wo der Tod erschreckend ins Wohlstandsleben tritt – auch hier entwickelt Nemirovas Bebilderung der Isolden-Geschichte, die so stark von Todesverbundenheit durchdrungen ist, eine dekorative Tiefe.
Erst recht beim Liebesakt: Da beschriften, nachdem sie die Scheiben mit den zentralen Stichworten Tag, Tod, nah, Mund, ewig, Herz, Du und Ich verziert haben, Tristan und Isolde sich gegenseitig die Arme und Beine, ihren Rücken und seine Brust mit ihren Namen (fürs Tätowieren war wohl in der Liebesglut noch keine Zeit). Mit der Filzstift-Orgie, die sich auf die schicklichsten Körperteile beschränkt, enthebt Vera Nemirova ihre beiden Hauptakteure der Peinlichkeit, sich in scheinerregender Weise auf dem Bett wälzen müssen. Ertappt und „gestellt“ wird das Paar, da die Regisseurin die Geschichte 1 : 1 erzählt, dennoch – und Tristan dann im Zweikampf schwer verwundet.
Das Gewächshaus mit seiner weitgehenden und gut zu besingenden Transparenz bleibt dem Publikum auch im dritten Akt erhalten. Eigentlich bietet die Burg von Tristans Vätern dem Rekonvaleszenten Schutz und er wartet fern von Cornwall auf die von dort so lange nicht kommende „Ärztin“ Isolde – aber man sollte auch hier nicht kleinlich sein und ein Einsehen haben, dass die große Versuchung der Weiternutzung des so schön Dekorativen eben allzu nah lag. Unter den geschickt gärtnernden Händen des getreuen Kurwenal, den Mark Morouse mit klarem sympathischen Bariton bestreitet, begrünt sich und erblüht das Glashaus prächtig. Aus langer Bewusstlosigkeit aufwachend, erinnert sich Robert Gambill an das gelöschte Liebes- und Lebenslicht, gerät gänzlich außer sich, singt und spielt den schwerkranken Patienten mit den Anfechtungen des Wahnsinns atemberaubend. Die Personenführung erreicht höchste Plausibilität und das zunächst unter sehr langsame Tempovorgaben gestellte Beethoven-Orchester nimmt zügige Fahrt auf und entwickelt hoch konzentriert die wünschenswerten Intensitäten.
Das unentrinnbare Ineinander von reichlich ideologiehaltiger Weltanschauung und tiefen Wahrheiten über die Beziehungsprobleme von Frauen und Männern, von Intimstem und jenem Staatstheater, das König Markes Schlussansprache markiert, bevor die bis in den Tod herrische Isolde das letzte Wort haben muss, diese seelenvoll-unselige Verquickung verdient das, was neuerdings von rechts als „Aufklapptheater“ denunziert wird (damit sind die analytischen Ansätze des „Regietheaters“ gemeint). Aus der Nähe betrachtet drängte sich der Wunsch auf, Vera Nemirova hätte das Werk und seine Protagonisten nicht nur in lichtem transparentem Ambiente beschriften und erblühen lassen sollen, sondern auf erkenntnisreiche Weise öffnen, „aufklappen“ mögen.