„Schwül ist’s! Licht her!“ Boris Godunow hat Recht. Seit geraumer Zeit schauen wir auf eine schummrige, dauervernebelte Bühne. Nicht nur uns und den russischen Zaren hat Calixto Bieito damit eingelullt, auch den katalanischen Regie-Workaholic selbst scheinen diese pausenlosen zweieinviertel Stunden Mussorgsky eher geschwächt denn inspiriert zu haben.
Die wenigen kleinen Provokationen, die Bieito diesmal auf Lager hat, sind schnell aufgezählt: Das Volk hält, bevor es von brutalen Polizisten zum Boris-Jubel gezwungen wird, Schilder mit Politiker-Fotos von Putin bis Berlusconi in die Höhe. Die Wirtin einer mobilen Kaschemme peitscht ihre Tochter aus und erschießt einen Gesetzeshüter. Kinder setzen dem Gottesnarren brutal zu, bis ihm schließlich ein Mädchen einen Kopfschuss verpasst.
Eine düstere, von skrupellosen Politikern gewaltsam kontrollierte Euro-Krisen-Gesellschaft ist es also, an deren Spitze Präsident Boris sich mittels eines Mordes gebracht hat. Die Entscheidung für die nur sieben Bilder umfassende Version der Oper – den so genannten „Ur-Boris“ – hätte eine Konzentration auf die Titelfigur bedeuten können. So wie Mussorgsky sie vorschwebte, bevor er mit seiner Überarbeitung die Rolle des Volkes profiliert und mit dem Polen-Akt den Handlungsstrang rund um den Usurpator Grigorij erweitert hatte.
Nur leider erfahren wir von Bieito kaum etwas über diesen Boris, außer dass der bis zu seinem ersten Zusammenbruch nicht den Eindruck macht, als könne ihm die Erinnerung an seinen blutigen Aufstieg irgendwelche Skrupel bereiten. Und am Ende wäre es nicht einmal nötig, dass er an seiner geistigen Umnachtung stirbt, schließlich hat im Hintergrund, vom Strippenzieher Schuiskij protegiert, Grigorij schon damit begonnen, dessen Restfamilie zu meucheln. Schwer vorstellbar, dass er dann vor dem Machthaber selbst halt machen würde.
Ebenso kraftlos wie die auch in der Personenführung diffuse Szenerie bleibt dieses Mal Bieitos Bildersprache. Einzig die aus dem monströsen Stahlgerüst herausklappende Präsidentenwohnung (Bühne: Rebecca Ringst) sorgt für einen kurzlebigen visuellen Akzent. Zeit genug also, dem radikalen Entwurf nachzulauschen, den Mussorgsky mit dieser ersten Boris-Fassung vorlegte.
Kent Nagano arbeitet die schroffen, oft filmisch gegeneinander geschnittenen Klangmischungen mit großer Tiefenschärfe heraus, das Bayerische Staatsorchester folgt ihm mit tadellosem, wenn auch nur phasenweise visionär mitreißendem Spiel. Grandios gelingen die glockenumtosten, vom Chor mächtig ausgesungenen Steigerungen; der ersterbende Schluss erzeugt unter Naganos Leitung eine fahle, musikdramatisch weit ins 20. Jahrhundert hereinragende Färbung.
Gesungen wird auf hohem Niveau, einzig Anatoli Kotschergas etwas farbloser, unausgeglichener Pimen und Gerhard Siegels wenig differenzierter Schuiskij fallen ein wenig ab. Vladimir Matorins Warlaam (eher Penner als Mönch) gestaltet in der Schankszene einen vokal und darstellerisch gleichermaßen packenden Höhepunkt. In der Titelpartie glänzt der junge Alexander Tsymbalyuk mit geschmeidigem, gut dosiertem Volumen. Wenn er im Lauf der Auseinandersetzung mit dieser Paraderolle noch an klanglichen Nuancen hinzugewinnt, dürfte er sich in den kommenden Jahren zu einem führenden Bass in diesem Fach entwickeln.
Calixto Bieitos Entwicklung dagegen scheint derzeit zu ruhen. Mit dem vom Zarensohn Fjodor herumgeworfenen Ballon-Globus ist er mittlerweile – siehe seine Freiburger „Grand Macabre“–Inszenierung – beim Selbstzitat angekommen.