Vier Opern hat der aus Chicago stammende, bei György Ligeti in Hamburg ausgebildete und in Berlin lebende Komponist Sidney Corbett bislang für deutsche Theater geschrieben. Zwei davon für Bremen – 2001 „Noach“ (mit einem Libretto von Christoph Hein) und 2007 die still-sensible Kammeroper „Keine Stille außer der des Windes“ nach Texten des portugiesischen Lyrikers Fernando Pessoa. Ferner 2002 für Stuttgart „X und Y“ und für das Musiktheater im Revier 2012 „Ubu“.
Im Anschluss daran entwickelte der Intendant des Theaters Osnabrück, Ralf Waldschmidt, zusammen mit dem Komponisten aus dem Roman „Le grand cahier“ der ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin Ágota Kristóf (1935–2011) ein Libretto. Das hat nicht eben zu gemütlichem neuen Musiktheater geführt: „Das große Heft“ beschreibt Zwillinge, die bei Ausbruch eines näher nicht benannten Kriegs zur Großmutter aufs Land evakuiert werden, dort hungern, betteln und verrohen. Um ihr Überleben zu sichern, scheuen die beiden Heranwachsenden auch vor schweren Delikten nicht zurück – und werden dabei von unerbittlicher Sehnsucht nach Wahrheit getrieben. Alles, was ihnen begegnet, tragen sie ins große Heft ein.
An Kain und Abel erinnert die erste Szene. Doch die beiden namenlosen Brüder, die von ihren Angehörigen und vom Milieu übel behandelten Hauptfiguren, halten wie Pech und Schwefel zusammen in den knapp zwei Dutzend Szenen, in denen sie und ihre Denkformen allzeit auf der Bühne präsent sind. Erst ganz am Ende, als sie den Vater im wörtlichen Sinn ins Verderben (nämlich durch ein grenznahes Mienenfeld) laufen lassen, bietet sich einem der Zwillinge die Chance, über die Leiche des Vorangegangenen hinweg ins Ausland zu gelangen und dort ein neues Leben zu beginnen.
Die heftige Herzlosigkeit mit tödlichen Folgen steht am Ende eines kriegsbedingten Verrohungsprozesses: Die beiden Jungs machten ihn durch, nachdem sie bemerkten, dass in Zeiten der militärischen Konflikte die Zehn Gebote noch weniger gelten als in Friedenszeiten. Weder das Fünfte, das dem Morden Einhalt gebietet, noch die zum Schutz des Eigentums oder des guten Leumunds kodifizierten mosaischen Gesetze. Auch die im Buch Exodus festgehaltene Artenschutzregelung für Mutter und Vater erscheint außer Kraft gesetzt – warum sollte einer geehrt und beschützt werden, der sich nie um sie kümmerte? Es nützt dem Vater auch nichts, dass er geltend macht, im Gefängnis eingesessen zu haben. Wohl aus politischen Gründen.
Sozialisiert also von einem einzigen Buch – der Bibel – tragen die Adoleszenten in „Das große Heft“ ein, was ihnen widerfährt und was sie jeweils als einzig wahr erachten. Der Ausstatter Etienne Pluss ließ für die zweckdienlich zurückhaltende Inszenierung von Alexander May ein paar karge Stellwände über der von welken Blättern oder Brandresten übersäten leeren Bühnenfläche aufstellen. Die Wände mutieren zu einem zunächst unbeschriebenen überdimensionalen Buch: Auf den matt spiegelnden Flächen erscheint immer wieder ein Schriftzug. Ohnedies ist Corbetts neue Arbeit in hohem Maß auf Text ausgerichtet – auf das weithin stockend gesungene, dann aber auch von Koloratur-Anflügen intensivierte und gesteigerte lakonische Wort. Über Lautsprecher eingeschaltet, verweist es immer wieder auf die Roman-Vorlage und die Ergründung dessen, was in Reflexion der Humanitätsgebote deren Anwendung lebenspraktisch außer Kraft setzt.
Zu den längerfristigen Überlebensstrategien derer, die Kriegsgräuel erleben, gehört, dass sie die traumatisierenden Ereignisse verdrängen. Das kühne Konstrukt von Kristófs Erstlingsroman „Das große Heft“ wurde von Corbett mit einer Musik bedacht, die mit leisen Intensitäten einen Korrelat zum Text schafft – und beide gemeinsam scheinen in peristaltischen Bewegungen gegen das Vergessen und Verdrängen anzugehen. Dabei scheint der Tonsatz von einem „stockenden Fluss“ getragen, dessen inhärente Widersprüchlichkeit der Dirigent Andreas Hotz deutlich macht: als differenziertes Kontinuum. In das sind die beiden dominierenden Partien der Zwillinge integral eingeflochten – der beiden vorzüglich angemessen agierenden Sopranistinnen Marie-Christine Haase und Susann Vent. Der Gesang setzt sich vom Instrumentalklang immer wieder ab und sich ihm gegenüber. Auch mit der Partie des mädchenschändenden Priesters, den Jan Friedrich Eggers ebenso treffsicher singt und spielt wie den sadomasochistisch veranlagten fremden Offizier. Hervorragend besetzt ist in Osnabrück auch die Partie von Hasenscharte mit Ariane Ernesti als junger Frau in der Opferrolle und mit Hasenoutfit.
Ob es beabsichtigt war oder nicht, sei hier dahingestellt: Sidney Corbett ist in Zusammenwirken mit seinem Librettisten, dem Osnabrücker Intendanten Ralf Waldschmidt, so etwas wie ein modernes „Lehrstück“ gelungen, das Motive der Brechtschen „Maßnahme“ aufgreift, aber gänzlich anders wendet. Mit dem „Großen Heft“ geht es nicht um Kollateralschäden derer, die welthistorisch gestaltend in den Rand der Geschichte eingreifen wollen, sondern um die am anderen Ende der Prozesse, welche die große Kausalkette von Krieg und Terror auslöst. Wie am Ende des vorigen Jahrhunderts z.B. auf dem Balkan.