Alfred-Adler-Schule für kranke Kinder und Jugendliche (AAS), Universitätsklinikum Düsseldorf. Eine Gruppe von Studierenden der Robert Schumann Hochschule samt Studiengangsleiter begrüßen um die 15 Kinder, Angehörige, Lehr- und Pflegekräfte im Sitzkreis mit einem Willkommenslied, bei dem alle mitmachen, singen, wippen, klatschen. Einige Kinder kommen ans Klavier, setzen sich neben mich und spielen auf den hohen und tiefen Tasten mit. Ein etwa siebenjähriges Mädchen löst sich aus dem Kreis – „ich kann auch was“ –, stellt sich in die Mitte und singt das Freundschaftslied aus „Die Schneekönigin“; alle hören zu, wer kann, summt mit. Danach eine Rhythmus-Impro mit elementaren Schlaginstrumenten und eine Klanggeschichte. Anderthalb Stunden miteinander Musizieren, ein hoch emotionales Gemeinschaftserlebnis, in dem sich Menschen begegnen und näherkommen, die sich vorher nicht kannten und einander nicht vergessen werden.
Was alle Beteiligten so bewegt und beglückt hat, allen voran die Studierenden, für die das Musikprojekt eine neue Erfahrung war, kann man als Community Music (CM) bezeichnen: rausgehen zu den Menschen, die Kunstblase verlassen und Musik machen mit einer Gruppe von Menschen, die sonst keine Gelegenheit dazu haben, sich aber gerne musikalisch betätigen und einbringen, wenn sie die Chance dazu erhalten, auch ohne Vorkenntnisse. Das scheint weit entfernt von dem, was an Hochschulen vorrangig gelehrt, gelernt, gemacht wird: üben und interpretieren von Werken, vorsingen und Konzerte geben, sich auf Probespiele vorbereiten – kurz: das Instrument und die Stimme so gut wie möglich beherrschen, damit man eine gute Stelle bekommt, sei es in einem Orchester, an einem Opernhaus oder, bei künstlerisch-pädagogischen Studien, an einer Musikschule, an der das Ganze wieder von vorne losgeht: üben, interpretieren, vorspielen, Wettbewerbe gewinnen – ein Kreislauf des so genannten „Künstlerischen“.
Eine Frage des Zugangs
Liegt darin nicht auch, aus einem anderen Blickwinkel, etwas „Künstliches“, Artifizielles, Abgehobenes, das mit dem Leben vieler Menschen in unserer Gesellschaft wenig zu tun hat? Natürlich nicht, sagt meine Künstlerseele, konnte doch zum Beispiel Schumann vieles in Musik umsetzen, was in der Welt geschieht, Beethoven humane Botschaften verkünden und Bach Generationen im Innersten berühren. Halt, widerspricht meine soziale Seele, Schwester der künstlerischen, was ist mit all den Menschen, die den Weg in die Konzerte und Kirchen, wo dies zu hören ist, nicht finden, weil sie nicht die Mittel und Möglichkeiten dazu haben oder dies nicht ihre Welt ist? Sollten wir bei aller Begeisterung über die viel gespielten „Meisterwerke“ der klassischen Musik nicht auch berücksichtigen, wer nicht Musik macht in unserer Gesellschaft, wer keine Chance oder keinen Zugang dazu hat, welche Musik nicht gespielt wird, wen wir nicht sehen und hören? Das sind nicht wenige, genau gesagt 80 Prozent der Bevölkerung, abhängig von Alter und sozialer Schicht, nach jüngsten Erhebungen des Deutschen Musikrats.
Haben aber diese vier Fünftel nicht auch die Gabe, Musik zu machen, wie sie uns allen in die Wiege gelegt wurde, und das Recht und vielleicht auch die Lust, sich musikalisch auszudrücken und durch miteinander Musizieren Freude zu erleben, wie die Kinder der AAS? Und obliegt uns Profimusiker*innen, die wir das Privileg haben, die menschliche Grundfähigkeit des Musizierens in einer langen Übebiografie entfaltet zu haben und beruflich ausüben und weitergeben zu dürfen, nicht die Aufgabe, musikalische Angebote auch für breitere Bevölkerungsschichten und sozial schwächere, in schwierigen Umständen lebende Menschen zu unterbreiten – Angebote gemeinsamen Musizierens, die Menschen verbinden und zu ihrem Wohlergehen beitragen können, emotional, sozial, körperlich, klanglich? Müssen wir nicht umdenken an Hochschulen und Musikschulen, Musik, Kunst, Künstlersein weiter fassen und unseren Auftrag, unsere Traditionen und Leitbilder gründlich überdenken? Könnte das möglicherweise nicht nur dem Zusammenleben in einer Welt mit einem „vergleichsweise ‚dünnen‘ Gemeinschaftsgefühl“ (Kaube & Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft), sondern auch der musikalischen Bildung, den Beschäftigungschancen und der Berufszufriedenheit von Musiker*innen zugutekommen, die mit dem Berufsziel „Kunst“ ihr Studium aufnehmen? Doch was heißt „Kunst“?
Musikhochschulen siedeln „Kunst“ vor allem im Bereich der Hochkultur an und sehen sich „sowohl der Ausbildung musikalischer Exzellenz verpflichtet als auch einer gesellschaftlichen Verantwortung für die Bereitstellung hochwertiger musikpädagogischer Angebote, die allen Kindern und Jugendlichen zugänglich sind“ (siehe hier). Letzteres klingt gut, aber passt die selbstgesetzte Norm zum künstlerischen Habitus, der an Hochschulen herrscht? Findet Community Music als Praxis kultureller Demokratie – das Recht und die Fähigkeit aller zur gleichberechtigten Teilhabe am kulturellen Leben und kreativen Schaffen – hier ihren Platz? Eher nicht, und sicherlich so lange nicht, wie die dominierende künstlerische Ausbildung, bei allen der CM nahen Studienfächern und Arbeitsfeldern wie Musikvermittlung, EMP, Klassenmusizieren, Musikgeragogik et cetera, stilistisch so eng, eurozentrisch und elitär, werk- und notenfixiert, reproduktiv, auf instrumentales Können und Konzertpraxis ausgerichtet ist, und dies aus durchaus verständlichen Gründen.
Musik als Erlebensweise
Musik und Kunst aber sind mehr als Werke und der übliche Umgang damit. Kunst liegt in der Natur der Menschen, der sie aus seinen angeborenen Potenzialen heraus entfaltet (oder eben nicht); Musik ist unsere erste Erlebens- und Äußerungsweise, unmittelbare Kundgabe innerer Zustände und Kommunikation mit anderen, Klang des Körpers und der Seele, der Natur und der sozialen Umwelt, die durch sie verwandelt und erhellt werden – kurz: ein Grundvermögen des Menschen als „Musical Self“ (Trevarthen & Malloch), Medium von Verbundenheit und potenzielle Quelle des Glücks. Musikmachen („musicing“, nach David J. Elliott) und Gemeinschaft (Community) lassen sich nicht voneinander trennen, sie gehören zusammen wie der Einzelne und Andere, wie Ich und Du. Daher wäre ein treffenderer Begriff für Musik, die im sozialen Miteinander, in Fürsorge füreinander und geteiltem Leben gründet, nicht „musicing“, sondern „commusicing“ (mit Dank an A. Sophie Klaus für die Wortprägung).
Und unter diesem Gesichtspunkt besitzt jedes Musikmachen und -erleben, in Konzerten und anderen Communities, eine ethische Dimension: Die Künste lehren uns „Dinge über unsere gemeinsame Humanität, die wert zu wissen sind“ (W. Bowman); sie können Menschen zusammenführen, Gemeinschaften stärken, das Wohlergehen fördern und zur Veränderung, Bereicherung, Intensivierung des Lebens beitragen.
Dies sich bewusst zu machen ist für Musiker*innen an Hochschulen und Musikschulen von richtungsweisender Bedeutung. Denn daraus erwächst eine andere Praxis, ein anderer Umgang mit Musik, ein anderer, weniger egoistischer, weniger auf sich und sein Können bezogener Künstlertypus und eine andere Musik, „mehr Musik“ als nur Konzertmusik: Community Music als Ausdruck einer Gruppe, die ihre eigene Musik nach ihren eigenen Ideen und Ressourcen kreiert, mit Hilfe eines dafür ausgebildeten Community Musician oder Community Worker, als dessen Vorbild zum Beispiel der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan gelten kann, der „Bedürftige versorgt, zu Schutzsuchenden in die Metrostationen steigt, um mit ihnen zu singen“ (S. M. Salzmann in ihrer Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2022).
Werke als Gesprächsangebote
Wenn ich hier für eine solch andere, erweiterte künstlerisch-soziale Praxis plädiere und dafür, dass Community Music in die Hochschulausbildung und an die Musikschulen gehört, so hat dies mehrere Gründe: musikalische, menschliche, soziale, kulturelle und berufsbezogene. Zunächst einmal, so mein Ansatz, steht CM als Gemeinschaftsmusik in sozialen Kontexten nicht im Gegensatz zur an Hochschulen gepflegten „Werkmusik“. Musikalische Werke enthalten so viel „Kommunikative Musikalität“, so viel musikalische Interaktion in Form von affektiven Gesten und Gestalten, Bewegungen des Körpers, Dialog und Tanz, dass sie, übers Spielen und Zuhören hinaus, zum gemeinsamen Musikmachen genutzt werden können: indem man „Werke“ als Gesprächsangebote begreift, ihre Anfangs- und Hintergründe erkundet, sie öffnet und in Improvisationen von und mit allen verwandelt. Und solche „für alle“ geöffneten Werke lassen sich dann sowohl in neuer Frische aufführen als auch mit den daraus abgeleiteten Improvisationen und CM-Modellen aus dem Fundus von Dada, Fluxus, Konzeptmusik, Body Music, auch Folk, Rock, Pop und Punk in Unterricht und Konzert, auf Plätzen und Straßen, in alltäglichen Lebenskontexten verbinden, dort, wo die Musik herkommt und wohin sie wieder zurückgebracht werden kann (Oliver Giefers). Konzertmusik und Community Music in Ausbildung und Musikleben – dies sind keine Gegensätze, sondern unterschiedliche Appelle an unsere natürliche Musikalität und Ausprägungen unserer Grundfähigkeit zu musizieren! Aus dieser Perspektive würden Hochschulen ihrem Auftrag, öffentlich zu wirken und Musik in die Breite der Gesellschaft zu tragen, und Musikschulen ihrem Leitbild, Bildungseinrichtungen und Kulturzentren für alle zu sein, erst recht eigentlich gerecht.
Und siehe da, so könnten auch Produkte der sogenannten „Hochkultur“, die im Grunde aus Tiefem, Elementarem erwachsen, zu Prozessen werden, den Charakter des „Abgehobenen“ verlieren und an Leben, Welt, Wirklichkeit der Menschen andocken. Auch das Komponieren wäre dann nichts allzu Besonderes, „Geniales“, Respektheischendes, sondern entpuppte sich als das, was es ist: Kulturarbeit am gesellschaftlichen Puls der Zeit, die ebenso individuell wie hierarchiefrei, kollektiv und kollaborativ sein kann. Wer sagt, dass es immer einen Komponisten, eine Komponistin geben muss, die vorschreibt, was, wie und womit gespielt werden soll? Das kann man, wenn auch anders, so doch gemeinsam machen, und das kann auch qualitativ gut sein.
Die Grunderfahrung „Musizieren in Gemeinschaft“ zu gewährleisten ist Aufgabe von Musikhochschulen und Musikschulen, geleitet von der Devise: Vergesst die Ursprünge der Musik im kommunikativen Musizieren nicht – ergänzt die künstlerische Ausbildung an Hochschulen durch spezielle Angebote für das Musizieren mit einfachen Mitteln in sozialen Einrichtungen und Lebensräumen, zu denen Ihr hingeht, raus aus den „Sonderschulen“ und rein ins Leben – mit dem Ziel, dass mehr Menschen aus verschiedenen Milieus am Musikmachen teilhaben und eine ihrer zentralen Grundfähigkeiten entfalten können.
Erweiterung der Optionen
Natürlich sollen Studierende, die mit dem Berufswunsch „Kunst“ an die Hochschulen kommen und von da aus in Orchester und an Musikschulen gehen, wo sie dringend gebraucht werden, instrumental, stimmlich, künstlerisch-pädagogisch so gut wie möglich ausgebildet werden. Ihre künstlerische Qualität aber sollten sie über den engen Zirkel konzertanter Darbietungen und Einzelunterweisungen in den Dienst breiterer, bedürftigerer Bevölkerungsschichten stellen – und dies auch für sich selbst nutzen. Denn die Spannweite und Verbindung von künstlerisch exzellentem Singen und Spielen einerseits und musikalischem Dasein für Andere, Musizieren mit verschiedenen Gruppen in Häusern und Heimen, Kliniken und soziokulturellen Zentren, Gefängnissen und Gemeinden andererseits ist es, was unser Leben als Musiker sinnerfüllend, abwechslungsreich und lebendig machen kann – eine Erweiterung unserer Handlungsoptionen, die man freilich am eigenen Leibe als bereichernd erfahren haben muss.
Erwächst wie vieles auch die Wertschätzung von Community Music als potenzielles Tätigkeits- und (Teil-)Berufsfeld von Musiker*innen zuallererst durch Praxiserfahrungen, so wären diese bereits in der Zeitspanne des Studiums anzubieten. Denn wer nicht weiß, dass es das Arbeitsfeld gibt, und nicht darüber informiert wird, dass Künstler und Künstler-Pädagog*innen als musikalische „Kultursozialarbeiter“ gesellschaftlich gebraucht werden und darin auch berufliche Erfüllung finden können – Finanzierung, Fördergelder, feste Stellen wie am Konzerthaus Dortmund vorausgesetzt –, der kann sich nicht dafür oder dagegen entscheiden. Daher obliegt Musikhochschulen die Aufgabe, Studierenden das ganze Spektrum sinnvoller und potenziell wertzuschätzender musikalischer Tätigkeiten nahezubringen und sie zur Reflexion ihrer Rolle in der Gesellschaft anzuregen. Das heißt, Musikstudierende sollten im Studium die Chance erhalten, praktisch „zu erleben, dass Musik eine großartige Kraft im Sozialen entfalten“ (Thomas Grosse) und Menschen Glück bringen kann. Und dass CM auch ein Gewinn für die eigene künstlerische Arbeit, das Üben, Auftreten und mit Hörer*innen in Kontakt treten, ja eine Form sozialen und künstlerischen Lernens ist, weiß jede*r, der die leuchtenden Augen der Kinder in der AAS und anderswo beim Commusicing erlebt hat. Solche wahrhaften „Leuchtturmprojekte“ könnten zum Beispiel Gegenstand von curricular verankerten Modulen eines Community Service bzw. Service Learning sein, das in Kooperation mit Partnern vor Ort ein Lernen durch Erfahrung mit verschiedenen Gruppen von Menschen in ihren sozialen Kontexten ermöglicht.
In der Bandbreite ihrer Arbeitsfelder und Adressaten, Inhalte, Themen und Methoden können Praktiken der CM als exemplarische Formen von Artistic Citizenship, Künstlersein in sozialer Verantwortung mit Welt- und Weitblick, alle Bereiche des Musikalischen inspirieren und neue Zugänge zu den musikalischen Ressourcen, die jede/r in sich trägt, und zur musikalischen Wirklichkeit schaffen – CM nicht nur als Studienzweig oder neue Sparte der Ausbildung, sondern als menschliche Haltung und Handlungsoption für alle Berufsfelder. Dazu zählt auch ein Instrumental- und Gesangsunterricht, in dem Freude am musikalischen Miteinander, je nach Schüler:in, genauso viel gilt wie instrumentaler Fortschritt.
Mit Menschen jedweder Herkunft und Zugehörigkeit sowie Materialien aller Art Musik machen an jedem Ort zu jeder Zeit, offen, achtsam, aus den Impulsen der Gruppe heraus – und mit Musik Bewusstsein entwickeln für den Wert sozialer, kultureller, ökologischer und politischer Lebensräume – das wäre eine Vision fortschrittlicher Hochschulausbildung und engagierter, aufsuchender Musikschularbeit.
In einer musikalisch freien demokratischen Gesellschaft, für die Community Music ein Übungsfeld darstellt, würde zum Beispiel, so eine meiner Visionen, neben einem Plakat mit der Aufschrift „Strawinsky – Petrenko“ ein gleich großes Poster mit dem Titel „Music Session Seniorenresidenz XY – Alle können mitmachen“ hängen – und die Akteure, Philharmoniker wie Familien, sich zu erschwinglichen Eintrittspreisen gegenseitig besuchen. Denn kein kulturelles Angebot ist besser als das andere, nur anders!