Es mag vielleicht wie ein Wiedergutmachungsversuch der Jury wirken. Diesem für den renommierten Siemens Musikpreis zuständigen Gremium konnte (musste) man in letzter Zeit eine deutliche Schlagseite zum Konservativen und Etablierten vorwerfen. Brendel, Dutilleux oder Barenboim, also die Preisträger der letzten drei Jahre (und wohl auch der Musikwissenschaftler Brinkmann, Wolfgang Rihm oder Harnoncourt davor) sind wahrlich keine Speerspitzen einer die Grenzen sprengenden Moderne, und wenn es so weitergegangen wäre, dann hätte der Preis, was seine Würdigung avantgardistischer Ansätze betrifft, gewiss Schaden genommen. Mit Brian Ferneyhough, der dieses Jahr den Preis erhalten wird, machte man eine Kehrtwendung um 180 Grad.
Der 1943 im englischen Coventry geborene Ferneyhough taugt freilich nicht dazu, wie eine Attrappe als Vorzeigefigur eines extremen Modernismus vorgeführt zu werden. Wäre es so, dann hätte die Jury wiederum nicht optimal entschieden. Doch sie hat diesmal einen gewählt, dessen peinlich genau durchformulierter kompositorischer oder schöpferischer Ansatz auch heute noch die Geister der jungen und jüngsten Generation bewegt und der einer der ausgesuchten Komponisten war, gegen den sich die Speerspitze der postmodernistischen, neoromantischen oder neu-einfachen Vertreter richtete. Manchmal freilich, etwa in der Debatte über eine zweite Moderne nach dem Verkümmern des Postmodernismus, wird Ferneyhough auch als Zugpferd benutzt und mitunter vor Wägen gespannt, deren Ballast er wohl gar nicht schleppen möchte. Aber auch solche von anderen auferlegte Verkrümmungen sind Begleiterscheinungen großer Persönlichkeiten. Vielleicht wäre Ferneyhough, um eine Wendung Adornos zu benutzen, auch gegen seine Parteigänger, bei denen das Komplexe mitunter zur Dekoration verkommt, zu verteidigen.
Seine Partituren sind höchst ausdifferenziert, auf den ersten und auch auf den zweiten Blick wohl völlig unüberschaubar. Der Begriff der New Complexity oder des Komplexismus wurde zuallererst auf ihn gemünzt. Blickt man mit instrumentaler Kenntnis in den Text, dann stellt man fest, dass alles in toto, was ganz exakt formuliert in den Noten steht, kaum spielbar sein dürfte. Und einher ging selbstverständlich der Vorwurf, dass es unsinnig sei, Unspielbares zu notieren. Dieser Konservativismus der Interpreten verbaute Ferneyhough ein Gutteil an öffentlicher Präsenz. Dass man hier eine Chance vor sich hatte, wurde lange übersehen. Zum einen kennen wir den Vorwurf des Unspielbaren durch die ganze Musikgeschichte und die Kunst der Interpretation wuchs an solchen Herausforderungen. Bei Ferneyhough entdecken wir freilich eine neue Qualität. Denn die Überforderung legt neue Schichten der Auseinandersetzung mit dem Sujet (dem Notentext) frei. Der Musiker muss an seine Grenzen gehen, ja er sollte sich bemühen, sie zu überschreiten. Und er muss sich einen Plan zurechtlegen, wie er mit der Partitur verfahren will, um ihr in Annäherungsprozessen möglichst nahe zu kommen. Realisierte (also aufgeführte) Musik, die in Notation vorliegt, ist immer nur verzerrte Annäherung an ein Ideal, wo immer dies auch zu lokalisieren sei – das sollte man nie aus den Augen verlieren. Ferneyhoughs Musik macht dies offenkundig.
Ein zweites, selbstverständlicheres, wenn auch kaum angesprochenes Argument ist ins Feld zu führen. Die Musik Ferneyhoughs wäre gar nicht anders zu notieren. Sie will sich nicht einlassen auf das Ungefähre von graphischen Schreibweisen, noch weniger vertrüge sie eine Nivellierung der scharfen rhythmischen, farblichen oder gestischen Kanten. Wer einmal Ferneyhough beim Versuch, seine Musik plastisch zu verdeutlichen, zuhörte, dem musste auffallen, dass dieser Komponist aus ganz natürlichem Inneren komplex denkt. Seine Musik ist keineswegs eine spekulativ aufgesetzte, sondern eine genuin eigene. Wenn er etwa eine Passage singend andeutet, dann vernimmt man in den distinkt gesetzten Unschärfen den unbedingten Zwang zu dieser Notation (auch dann, wenn man mit einem Messgerät feststellen mag, dass Ferneyhough das Geschriebene nicht exakt realisiert). Seine Musik kommt nicht nur aus dem Kopf, sondern aus einem geistig-sinnlichen Gesamten.
Ferneyhoughs Musik, vielleicht wird das erst später vollends klar, ist ein Gegenentwurf zur Abstumpfung unserer Sinne, wie sie die Gegenwart mit ihren Ablenkungs- und Entertainment-Mechanismen unerbittlicher denn je diktiert. Er sieht ein weltweites Zusammenbrechen des Intellekts, der die bedrohte menschliche Existenz verteidigt. Die sperrigen Kanten seiner Musik sind Rettungsanker. Hier knüpft er an die kritische Gesellschaftstheorie an und auch an Walter Benjamin, um den sich seine 2004 uraufgeführte Oper „Shadowtime“ zentrierte. Dessen Selbstmord auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus ist ihm Symbol der Vertilgung eines urbanen Bewusstseins, mithin die Vernichtung unserer Differenzierungsmöglichkeiten hin aufs Menschliche. Die sich dagegen richtenden Waffen werden immer stumpfer und schartiger, versammeln sich in einem der letzten Widerstandsnester, in dem der Kunst. Zu seiner Oper äußerte er: „Ich frage in dem Stück die Zeit aus. Es ist ein trauriges Stück, das aber durchaus auch humoristische Aspekte des Slapsticks einbezieht. Das war für mich kompositorisch eine neue Herausforderung: die Zeichnung von Personen, der Humor. Das Stück aber thematisiert nicht die Ausweglosigkeit. Die Kunst ist eines der letzten Mittel, uns selbst realistisch ins Auge zu schauen. Verfehlen wir auch dies, dann freilich bleibt uns nur das Verschwinden.“