Meine Zeit: Was hätte sich der gute Rudi Dutschke im Grabe rumgedreht, könnte er das Geschreibsel in allen erdenklichen Gazetten von „Spiegel“ bis „Bild“, von „Focus“ bis „Bunte“ über uns sogenannte „68er“ anlässlich des bevorstehenden Geburts- (oder sollte man genauer sagen: „Todes“)-Tages noch lesen. Was sich da selbsternannte Philosophen und Historiker über weite Strecken journalistisch zusammenklittern geht nicht auf die Haut eines Zwanzig-Meter-Pottwales. Und selbst sogenannte „Zeitzeugen“, die sich gegen Honorar in einfältigen Fernseh-Talkrunden ausmähren, scheinen entweder von romantisierender Amnesie oder einer opportunistischen Form von Alzheimer befallen. In unserer Ära der Gegenaufklärung scheint Geschichtsvergessenheit ein wesentlicher Faktor existenzieller Pseudostabilität und maroder Zukunftsvisionen zu sein. [Vorab aus Politik & Kultur 3/2017]
Kleines Beispiel aus der Praxis: Im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit hoffnungsvollen jungen Musikwissenschaftlern wurde eine gräusliche Czerny-Etüde angespielt. Auf meinen Hinweis, ich würde da lieber das feine Piano-Intro von „She’s a Rainbow“ der geschätzten Rolling Stones aus dem Jahr 1967 hören, starrten mich fünf ratlose Augenpaare an. „Rolling Stones? Wer oder was ist denn das?“, raunzte mir ein ca. 20-Jähriger zu, der kurz vorher noch eine zehnminütige völlig inhaltsleere Analyse der musikalischen Substanz des Helene-Fischer-Albums „Farbenspiel“ abgeliefert hatte, basierend auf dem rein kommerziell notwendigen halbjährlichen Wechsel jeweils angesagter modischer Kleidungstönungen. „Nie was von ‚Beggars Banquet‘, ‚Street Fighting Man‘ gehört – oder – für Euch etwas naheliegender – von ‚Ton, Steine, Scherben‘“, wagte ich zu antworten. „Wahrscheinlich olle Kamellen“, seufzte der Fischer-Freak.
Ignoranz nicht nur bei den Musikanten: Im Rahmen meiner allseits bekannten pekuniären Engpässe übernahm ich neulich als in meiner Jugend diplomierter Regisseur einen schamlos dürftig bezahlten Blockseminar-Lehrauftrag an einer Filmhochschule zum Thema „Bert Brecht im Bewegtbild“. Immerhin zwei Credit Points lockten die Studenten. Mit akademischen Usancen offengestanden eher weniger vertraut, wunderte es mich zunächst nicht, dass die zwölf erschienenen offensichtlich wissbegierigen Hollywood-Cracks der Zukunft zunächst mein Pult umringten und um eine Unterschrift in irgendein Studienbuch baten. Ein wenig verletzt war ich dann doch, als ich nach zehn Minuten allein im Hörsaal saß.
Aber – was ein in der Wolle rot gefärbter Alt-68er ist, der gibt in Sachen Aufklärung und Volksbildung nicht so schnell auf. Zunächst erwog ich die kostengünstige Eröffnung eines Internetportals unter dem Titel „Vorwärts“ – gefüllt mit Marx-, Engels- und natürlich meinen eigenen Schriften. Nach einem Monat (und drei nachweisbaren Zugriffen) erreichte mich eine strenge Abmahnung der SPD-Marketing-Division, dieser Titel sei für die Sozen längst geschützt. Ich solle das – nebenbei grunzlangweilige Teil umbenennen oder schleunigst aus dem Netz nehmen, sonst drohe mir wegen Urheberrechtsverletzung eine satte sechsstellige Strafe. Nachdem ich mich über den saft- und kraftlosen Content des sozialdemokratischen Hauspostillchens informiert hatte, empfand ich es für mich selbst als geschäftsschädigend und löschte mein Intelligenzangebot schleunigst und freiwillig.
Also: Zurück an die Basis, dachte ich, verschaffte mir einen Überblick von noch existierenden Volkshochschulen in der Umgebung (wegen der Reisekosten) und erbat aus der Kultur-Nothilfekasse des Deutschen Kulturrates einen bescheidenen Unkostenbeitrag. Nach zwei Monaten trafen auf meinem Basiskonto tatsächlich 50 Euro ein, die mir eine Fahrt zur VHS Großschlattengrün (nahe Hundshintervötting in Nordbayern) ermöglichten. Dort hatte man Interesse an meinem Thema „Aufklärung, total, radikal“ geäußert.
Mein Vortrag fand – wegen reichlicher Anmeldungen – im Wirtssaal des Gasthofes „Zum Brunzmandl“ statt. Und tatsächlich befand sich im Vorgarten des Anwesens ein funktional leider stillgelegter Gartenzwerg in Positur des berühmten Brüsseler „Petit Julien“. Weil ich mich auf etwa 40 Aufklärungsabende vorbereitet hatte, gedachte ich, sozusagen ex ovo zu beginnen: Mit den mir nahegehenden „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion“ von Karl Marx aus dem Jahr 1842. Zu Zeiten von Fake-News, Schmierenjournaille, Paparazzidreck und Trump-Getwitter ein hochaktuelles, höchst wahrheitsdienliches Thema. Ich startete meinen beklatschten Auftritt mit dem Eingangszitat zum ersten Kapitel: „Wir gehören nicht zu den Malkontenten, die schon vor der Erscheinung des neuen preußischen Zensurediktes ausrufen: Timeo Danaos, et dona ferentes …“
Weiter kam ich leider nicht, weil sich das im Publikum entwickelnde Gemurre in laute Zwischenrufe steigerte: „Was soll’n denn die Saupreißn bei uns, wann kummt endlich der Sex, mir wolln a totale Aufklärung und ned so an gschwollnen Schmarren…“. Immerhin waren drei der nach mir geworfenen Tomaten noch Salat-schnittfähig und einige der glücklicherweise recht frischen Eier heil in meinen Jackentaschen gelandet. „Et dona ferentes, de wolln Euch doch nur dumm machen, bescheißen, einkaufen, grad hier die bayerischen Bazis…“, brüllte ich schon auf der Flucht durch Hintertür und Schweinestall.
Tief depressiv und übelriechend kehrte ich in mein möbliertes heimatliches Zimmer zurück. Ich wollte schon einen doppelten Brennspiritus einwerfen, da fand ich auf meinem IKEA-Kombimöbel einen Brief. Es handelte sich um eine dank Kulturstaatsministerin Monika Grütters vermittelte Einladung ins RTL-Dschungel-Camp. Per aspera ad astra – dachte ich noch, bevor ich mich auf meine Luftmatratze warf – und einschlief.
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur
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Theos Kurzschluss: 85 kleine Streitschriften zu Politik und Kultur - auch als Buch bei ConBrio.