Eigentlich müsste ich vor Stolz platzen: Nach zehn aufopferungsreichen Jahren als Embedded Journalist immer treu in seinen Diensten ist es vollbracht: Mein mutmaßlicher Cheffe Wolfgang Schäuble schwingt sich jetzt zu einem Leitartikel in meiner geliebten Heimat-Zeitung auf: Wenn Sie wie üblich aus guten Gründen das Studium von „Politik & Kultur“ auf dieser letzten Seite begonnen haben – wenden Sie ausnahmsweise das Blatt – und Sie finden aus Wolfgangs Feder einen Aufsatz zu Europas politischer Kultur: „Grundlage guter Zukunft im 21. Jahrhundert“. [Vorabdruck aus Politik&Kultur]
Aus Wolfgangs Feder? Beim Lesen dieses Elaborates schwollen meine Schläfen-Arterien spontan auf Fahrradschlauch-Umfang. Nach dem Genuss einer Handvoll Betablocker kam ich zu dem Schluss, dass irgendein durch Polit-Marketing-Lyrik verseuchter Praktikant diese Ansammlung von Worthülsen und Gemeinplätzen an Schäubles kritischem Blick vorbeigeschmuggelt haben musste. Es mag schon sein, dass sich ein ausgebuffter Finanzfuchs nicht unbedingt zum feinsinnigen Freund der schönen Künste weiterentwickelt. Allerdings habe ich vor einigen Jahren unseren Wolferl mit leuchtenden Augen und hochroten Ohren beim Deutschen Chorfest in Frankfurt erlebt. Dass sich sein „Kulturbewusstsein“ dann auf eine derart ökonomistische, mit pseudo-eurozentristischen Phrasen gespickte Platt-Form reduziert hat, verdünnt noch durch religiösen Schein-Liberalismus, halte ich für völlig unwahrscheinlich.
Das Ganze startet mit Binsen wie „Unser Kontinent unterscheidet sich erheblich von anderen…, es herrscht ein viel höheres Sicherheitsbedürfnis“. Drauf folgt die hohe Schnulze, Europa hätte die größte „soft power“, belegt durch den materialistisch unterfütterten Schlangensatz-Euphemismus: „Die Attraktivität der europäischen Kultur, gut ausgebildete Menschen, lebendige Zivilgesellschaften, eine demokratische und offene politische Kultur, die soziale Marktwirtschaft, international erfolgreiche Unternehmen“ (sic!)…und so weiter…“all das wird als europäische ‚soft power‘, als europäisches Modell wahrgenommen.“ Aber lesen Sie doch selbst, die rosarote Brille nicht vergessen.
Immerhin: Der Begriff „Kultur“ kommt vor. Wir haben uns an den Gebrauch von Koppel-Wörtern wie Banken- Börsen- oder Firmen-Kultur gewöhnt. Wir fallen kaum noch über Politiker her, die Kultur auf ihre Funktion als weichen Standortfaktor oder Sozial-Kitt reduzieren. Wir haben es satt, den inflationären Umgang mit dem Schmink-Begriff „politische Kultur“ noch ausgiebig zu bekritteln. Es ist wenig kreativ, sich den Schädel an verständnislosen MINT-verbildeten aber machtbewussten Vollpfosten einzurennen. Johann Nestroys trauriger Satz: „Die edelste Nation ist die Resignation“ scheint in vieler Hinsicht auf das kontrollsüchtige, bürokratie-lastige 28-Staaten-Konglomerat anwendbar. Und so werden demnächst erneut deutlich weniger als die Hälfte der Bürger Europas sich an die Urnen bemühen, um Volksvertreter zu wählen, deren Aufgaben und Tätigkeiten in den Nebelbänken zwischen Straßburg und Brüssel allenfalls schemenhaft zu erkennen sind.
Mein Stichwort-Zettel für den Schäuble-Leitartikel – er landete vermutlich im Reißwolf des Praktikanten – enthielt folgende thematische Anregungen: „Das Projekt Europa ist eine großartige Vision, deren Realisierung am ökonomischen Zyklopenblick vieler teurer Posten-Besetzer zu scheitern droht. Das Versäumnis, von Fesseln des Kapitals befreite kulturelle Vielfalt ins Zentrum der europäischen Gemeinschaft zu rücken, rächt sich jetzt. Populistische Opportunisten versuchen mit einigem Erfolg, die europäische Idee mit nationalem Egoismus zu kontern. Aufklärung wäre angebracht statt aufgepfropfter Regulierungsdekrete, die Bananenkrümmung definieren, den Banken aber jeglichen Spekulationsspielraum belassen. Statt unseren wichtigsten gemeinsamen Nenner, unsere kulturelle Tradition, unsere humanistische Weltsicht zu fördern und zu schützen, ist die EU dabei, diese Ressource im Rahmen des Freihandelsabkommens mit den USA zu verschleudern. Ich, Wolfgang Schäuble, werde all meine Kraft, meinen Einfluss dazu nutzen, diese Fehlentwicklungen zu korrigieren.“ – Naja, kam wohl nicht so gut.
Immerhin werde ich mich mit meinem Herausgeber-Kollegen Olaf Zimmermann erstmals nicht bis aufs Blut über meine Glosse streiten müssen: Hat er doch gerade in seinem Editorial das hohe Lied wider die Obrigkeits-Hörigkeit gesungen. Da stimm‘ ich ein. Mutig, mutig, lieber Olaf…
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur