Trüber Herbsttag, Nebel über der Donau, fieser Nieselregen zwischendurch. Eigentlich sollte mir solches Wetter gefallen. Schließlich sitze ich naturfern im Homeoffice. In guter Reichweite ein bereits halb geleertes Fläschchen feinen Rotspons aus dem Ahrtal, selbstverständlich samt Kelch. Vor mir der brandneue gecurvte 90-Zoll-Bildschirm, rasant gespeist über ein frisch verlegtes Glasfaserkabel. Auf dem Schirm zähle ich an die 90 briefmarkengroße Bewegtbildchen. Ich befinde mich als Gast in einer mit hochbedeutsamen Entscheiderinnen und Entscheidern gespeisten Zoomkonferenz der „Vereinigung Deutscher Kulturstifter*innen und Steuerberater*innen“, bereichert durch Vertreterinnen und Vertreter der politischen Parteien und drei sogenannten Betroffenen. [Vorabdruck aus Politik & Kultur 2020/11]
Im Unterschied zu mir können sie sich in die Diskussion einschalten, als Gast darf ich nur zuhören und zugucken. Es geht um Gegenwart und Zukunft der Kultur und ihrer Förderung in Gegenwart und Zukunft auch unter fiskalischen Aspekten.
Seit einer guten halben Stunde begründet Emilia Äquatortaufe – so hab ich’s vielleicht etwas schwerhörig verstanden –, als dritte stellvertretende Pressesprecherin der Mercator-Stiftung die Beendigung des Engagements für kulturelle Bildung der von ihr vertretenen Institution mit Hinweis auf künftige Förderung der Schuhmode-Industrie, die ja auch was mit Kultur zu tun habe. Es folgt das Statement des Vizepräsidenten der Vereinigung „Zahnärzte für Hochkultur“, Wolfgang Amadeus Wagner, mit dem Thema: „Rettung dank Genschere?“.
Fairerweise wies er gleich zu Beginn seines Beitrages darauf hin, dass er eher Spezialist für Parodontose und Karies denn für die Künste sei. Allerdings habe er im Internet eine möglicherweise hilfreiche, ja rettende Entdeckung gemacht: „Wenn Forscherinnen und Forscher bisher in das Erbgut eines Organismus eingreifen wollten, gingen sie vor wie beim Schuss mit der Schrotflinte: Irgendein Kügelchen wird schon treffen. Dadurch kam es neben der gewünschten Veränderung oft auch zu schädlichen Mutationen, siehe Maskenverweigerer. Doch ein neues Werkzeug verspricht Abhilfe: Mit dem CRISPR/Cas9-System können Wissenschaftler exakt an der gewünschten Stelle der DNA einen Schnitt vornehmen. Stellt man den Reparaturenzymen der Zelle dann einen passenden neuen Abschnitt zur Verfügung, bauen sie bevorzugt diesen an der Schnittstelle in das Erbgut ein. Dadurch sind endlich Präzisionsänderungen am menschlichen Erbgut möglich – erste „Was soll denn das“? – und Buh-Rufe nicht identifizierbarer Konferenz-Teilnehmenden. So ist es möglich, Anti-Karies-, Parodontose- und -Corona-Gene ebenso zu implantieren wie kultur-affinitäts-fördernde. Das sei doch ein Silberstreif der guten Hoffnung für alle Kulturschaffende“ …
Anlässlich des folgenden Tumultes schaltete die als Moderatorin gewonnene grüne Bundestagsabgeordnete Annalena Baerbock alle Mikros außer dem ihrigen stumm und verkündete eine viertelstündige Pause. Die nutzte ich sinnvoll, meine mittlerweile geleerte Ahrweinflasche durch eine neue zu ersetzen und mir selbst zuzuprosten. Denn ich hatte den Eindruck, dass diese Veranstaltung hervorragenden Stoff für einen ausführlichen Bericht in der bekannt vorzüglichen Zeitung „Politik & Kultur“ liefern könnte.
Diese Vermutung bestätigte der nächste Referent. Es handelte sich um einen der eingeladenen „Betroffenen“: H. P. Baxxter, bekannt auch als Mitglied der Gruppe „Scooter“ und mit bürgerlichem Namen Hans Peter Geerdes tönte hochseriös: „Corona sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden, wir müssen solidarisch sein und helfen, die Pandemie einzudämmen. Ich, Baxxter, habe jedoch Verständnis für die jungen Leute, die zu Hause sitzen und nicht loslegen können. Es darf hier aber auf keinen Fall ein Kampf Alt gegen Jung entbrennen. Die Krankheit ist ernst zu nehmen, aber Angst und Panik sind nicht immer die besten Ratgeber. Außerdem sollen Staat und Stiftungen viel mehr Kohle rausrücken für alle im Unterhaltungsbereich Tätigen. Und die haben auch aktiv zu werden, statt nur zu jammern. Ich selbst habe gerade einen neuen aufbauenden Song rausgebracht – FCK 2020. Ich erwarte Unterstützung von allen Medien, gerade auch von der Tagesschau, die Schleichwerbung für die Schmuseband „Ärzte“ macht, und von der Bild-Zeitung, Sie brauchen sich gar nicht hinter ihrer Deutschlandfahne zu verstecken, Herr Döpfner …“
„Welch unverschämte Ignoranz“, fährt der frischgebackene Springer-Oberboss und Inhaber Mathias Döpfner, vermutlich mit einer Prio-Connection ausgestattet, dazwischen. „Die Steuerersparnisse, die unsere Axel- oder Friede-Stiftung generieren, verteilen wir – ähnlich der Bertelsmann-Stiftung – an wahrhaft wohltätige Institutionen jedweder Provenienz. Do ut des – Gib, damit dir gegeben wird, ist unser Motto, – und zwar die lateinische Version, Sie Pop-Trottel. Außerdem pflegen wir Kunst und Kultur wie eine Volkshochschule gerade auch in der Bild-Zeitung – allein dank des breiten Spektrums unserer Personality-Meldungen und aufklärerischen Fotos …“
Leider habe ich in diesem Moment meinen frisch gefüllten Rotspon-Kelch umgestoßen und über Tastatur und Rechner gekippt. Ein gutes Viertele rinnt in meinen Compi und erzeugt wohl demnächst – so riecht es – einen Kurzschluss. Schade, so versäume ich den sicher spannenden Steuerberater-Teil der Konferenz. Na ja, als Material für „Politik & Kultur“ hätte dieses perspektivlose Gezänk ohnedies nicht getaugt. Prost Mahlzeit, ich bin schon ein bisserl schwindlig …
- Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur