Das Letzte 2020/02: Ausnahmsweise starte ich diese üblicherweise schräge Fake-Text-Rubrik mal mit einer kurzen Story aus dem wirklichen Leben: Berlin, Machnower Straße, Bushaltestelle gegenüber eines Gymnasiums. Im Hintergrund die Front einiger Häuser, gebaut um die beginnenden 1900er Jahre. Davor ein gemauerter Ein- oder Ausstieg, versiegelt von einem Gitter mit der verschrammten Randaufschrift „Luftschutz“.
Ein Pulk offensichtlich älterer Oberstüflerinnen und -stüfler scharrt mit den Füßen und wartet zusammen mit einer Frau, so in den Sechzigern, auf den Bus. Ein Youngster mit Dreitagebart stupst mit seinen Sneaker gegen das Gitter. „Was isn dis wohl“?, ruft er, um sich im Gesamtlärm durchzusetzen, zu seiner Nachbarin. Die schweigt. „Na, das ist doch logo“, mischt sich die ältere Dame ein, „das ist ein tolles Projekt der Grünen. Unter dem Gitter sind Pumpen und Filter. Die saugen den Dreck von Autoabgasen ein und verbessern so die Luftqualität“. Ein munterer Strauß lobender Adjektive zirkelt durch den Schülerpulk: „Supernice, ultracool, rattengeil“, klingen die Kommentare hoch. Es nähert sich der Bus – der Pulk verdichtet sich und verschwindet – Ende der Reality-Show.
„Macht mich Bildung zum besseren Menschen?“ headlined „Die Zeit“ in ihrer Rubrik namens „Wissen Zwei“. Und sie opfert eine fette Seite für ein Interview mit dem sogenannten „Gelehrten-Ehepaar“ Lorraine Daston, 68, Historikerin, nebst Gatten Gerd Gigerenzer, 72, Psychologe und Leiter eines Harding-Zentrums für Risiko-Kompetenz. Als teils verwaschene Quintessenz schon in der Überschrift des Gespräches verdeutlicht, lässt sich festhalten: Das Humboldtsche Bildungsideal gehört auf den Schrotthaufen der Geschichte, der Begriff „Bildung“ ist veraltet, für Madame Daston gar ein Fremdwort. Da huldigen sie hemmungslos – natürlich in bester Absicht, den homo superior zu formen – und frömmster Fortschrittsgläubigkeit dem goldenen Roboter-Kalb eines kapitalen, menschliche Ressourcen ausschlürfenden Digitalismus.
So surfen die Historikerin und der Psychologe hoffnungsfroh auf der mit Plastikideologie verdreckten Welle des Zeitgeistes – und sind auf ihre mittelalten Tage gesellschaftspolitisch „State of the Art“. Während die einschlägigen drei, vier Multi-Billiardäre schon in die Entwicklung von Raumschiffen zur Erd-Evakuierung – Rares für Bares – investieren, pumpen Bund und Länder Milliarden Steuergelder in Lehrstühle und sonstige Forschungseinrichtungen zur Förderung des Fortschrittes an sich, also der künstlichen Intelligenz (KI).
Logisch, dass es dann an Mitteln fehlt, auch nur annähernd genügend Lehrerinnen und Lehrer für die unterschiedlichen Schultypen auszubilden. Stattdessen haben z. B. Bayerns Freie Wähler den Juristen und somit sicher sachkundigen Michael Piazolo als Staatsminister für Unterricht und Kultus in den Landtag transplantiert. Und der stellt seine Kompetenz eifrig unter Beweis, indem er Grundschulpädagogen „zwecks Qualitätssicherung“ unbezahlte Mehrarbeit und auch sonst vielseitige Schlechterstellung aufdrücken möchte. Mit dem Karnevals-Argument, in fünf Jahren würden die Gehälter sicherlich deutlich steigen. Außerdem gäbe es ja für nicht ganz so wichtige Fächer wie Musik und Sport die Möglichkeit, ansonsten berufsfremde Arbeitskräfte in Zweimonatskursen zu briefen und so den quantitativen Mangel kostengünstig zu kompensieren.
Zur Qual der neuerdings reichlich dank üppig fließender Hochschulmittel beamteten Professoren mit Ausbildungsschwerpunkt in allen Bereichen der digitalen Zukunftsarbeitsplätze entscheiden sich sehr viele unserer insgesamt mental zurückgebliebenen Schulabsolventen – auch zum Schrecken von Daston und Gigerenzer – nach ihrem Berufswunsch befragt für Resterampen-Tätigkeiten wie Arzt, Lehrer, Anwalt, Polizist oder gar Altenpfleger. Die OECD legte soeben eine Sonderauswertung der neuesten Pisa-Studie vor und kommt zu dem Schluss, „dass auch im Zeitalter sozialer Medien und künstlicher Intelligenz Jugendliche in den OECD-Ländern kaum Tätigkeiten anstreben, die mit der Digitalisierung entstanden sind, sondern vor allem etablierte Berufe“.
Entscheidet euch: Wollt Ihr die totale Zukunft? Dann Schluss mit Latein, Altgriechisch, Sprachen (es gibt genug feine Übersetzungscomputer), Musik, Kunst, Religion und so fort an allen unseren staatlichen Ausbildungsstätten. Für solche Orchideenspielplätze gibt es genug private Akademien. Bertelsmann, die KuPoGe, der „Spiegel“, „Die Zeit“, der „Münchner Merkur“, und, und, und… Alle versammeln angebliche oder tatsächliche Experten und verticken für teures Geld zum Schmuck des eigenen Images entsprechende Kurse und Beratungsangebote.
Von zentraler Bedeutung allerdings ist die Umwandlung des bisherigen sogenannten Geschichtsunterrichts. Dieser rückwärtsgewandten Ansammlung negativer, depressiv machender Möchtegernfakten aus längst vergangenen Zeiten gehört der Garaus gemacht. Positiv denken, in die Zukunft blicken: Statt vergangenes Kriegsgedöns, Flüchtlingsgejammer oder schlechtes Wetter abzuhandeln wäre eine gesunde Ausbildung im Bereich wirtschaftlicher Zusammenhänge vom Kindergarten bis zum Abitur ein bildungspolitisches Pflichtprogramm. Als Nebenfach wäre dann „Luftschutz“ ohnedies in den vielfältigen Kanon des neuen Hauptfaches „Ökonomie, Spekulation und Risikobereitschaft“ integriert. Völker, stellt die Signale – aufs bedingungslos Digitale.
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur