Wer, wie ich, in den späten Vierzigern des vergangenen Jahrhunderts von einem Mischlings-Ehepaar – Vater Sachse, Mutter Berlinerin – beide auch noch evangelisch – als Geburtsort eine bäuerlich christsoziale oberbayerische Gemeinde zugewiesen bekam, hat ein abenteuerliches Leben vor sich. Ich überspringe frühe eigentlich charakterfestigende, prägende Vorschuljahre und entsinne mich meiner ersten Flucht: Aus der ersten Zwergschul-Klasse im Rahmen der Einschulung. Alle 50 oder 60 Mitschülerinnen und Mitschüler präsentierten stolz ihre prächtigen Schultüten. Ich konnte nur – selbst gewähltes Elend – eine Plastikkamera im Streichholzschachtel-Format vorweisen, die statt eines belichtbaren Films beim Durchgucken zwölf kleine bunte Ansichten der reizvollen landschaftlichen Umgebung präsentierte. Was für eine Schmach. Wie der Blitz flitzte ich ins Freie, um von der überlichtschnellen Lehrerin – schwupps – eingefangen zu werden. Viel später besuchte ich, vermutlich um diese Scharte auszuwetzen, die Münchener Hochschule für Fernsehen und Film …
Als damals schmächtiger Hänfling zwischen vollmilchgemästeten Bauernmadln und -buam war ich mit einer weiteren Macke gestraft: Ich sprach „Preußisch“. Und alle Versuche, mir die guttural-vokalsatte ortsübliche Lautfärbung anzueignen, wurden von den Eingeborenen sofort erhört und mit Spott und Schande kommentiert. (Drei Jahre später schrieb ich bei der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium zwar einen vorzüglichen Aufsatz, mit dem ich meine scheint’s angeborene Rechenschwäche gut kompensieren konnte, aber was half das schon in meinem rauen Grundschul-Umfeld.)
Gelegentlich versuchte ich, mich kämpferisch zu profilieren. Es dürfte sich anfangs des zweiten Halbjahres der dritten Klasse abgespielt haben. Damals gab es noch viel Schnee, der im März erst taute und tolle Schlammpfützen entstehen ließ. In zahlreichen Ring-und-Rang-Kämpfen mit den strammen Bauernburschen hatte ich mir schon einen Mittelfeld-Platz errungen. Den Schulweg teilte ich mit einer etwas älteren Nachbarstochter namens Hanni (später eine bekannte Volksschauspielerin). Wobei „teilen“ ein falscher Begriff ist: Natürlich hielt ich normalerweise ausreichenden Sicherheitsabstand. An jenem fatalen Tag ritt mich dann allerdings das Eitelkeitsteufelchen. Ich bewarf Hanni mit flott geformten Schneebällen – und traf. Unter bedauerlicher Beobachtung einiger Kumpels preschte Hanni auf mich zu, packte mich und warf mich in eine knöcheltiefe Schneematsch-Pfütze. Was umso peinlicher war, weil ich in einer sogenannten „Loden-Kotze“, einem hoch saugfähigen Filz-Poncho steckte, der sich sofort vollsog. Hannis Triumph machte viel schneller die Runde, als ich trocknen konnte. Abgesehen von allseitigem Spott erhielt ich neben einem umfangreichen Vortrag über die angemessene Behandlung zarter Mädchen (haha) eine Woche Hausarrest.
Dennoch geriet ich nicht zum Frauenhasser, wie es aus vulgärpsychologischer Sicht eigentlich angemessen gewesen wäre. Vielmehr verliebte ich mich, neunjährig, während der Proben zu einem Krippenspiel als Knecht Stachal in einen Engel namens Susi. Mein Heimatdorf hatte sich, wohl auch um weltläufig und touristisch attraktiv zu wirken, eine kleine evangelische Kirche geleistet, deren junger Pfarrer mir zum Einstand erst mal eine kräftige Ohrfeige verpasste. Ich hatte, sprachgewandt, den Liedtext „Jesus geht voran“ lauthals mit „auf der Autobahn“ ergänzt. Trotzdem durfte ich im Krippenspiel eine textreiche Rolle übernehmen – und Susi anhimmeln. Mein Spezl, der Rudi, ein stiller, starker künftiger Hoferbe, bekam die stumme Rolle des Josefs. Einen Stock in der Hand stand er stocksteif eine Stunde neben der Krippe. Und ich habe lange Zeit nicht verstanden, weshalb er Susis Gunst errang und nicht ich, der begnadete Krippenspiel-Star. Jahrzehnte (?) später kam mir zu Ohren, dass Susi als üppige Bäuerin an der Seite von Rudi eine satte Partie gemacht hätte. Manches dauert Zeit, damals dauerte es mich.
Immer noch halb gebrochenen Herzens wechselte ich ins Gymnasium und machte erstmals aktiv die Erfahrung: aus den Augen, aus dem Sinn. (Nicht ungestraft, gewissermaßen „passiv“, sollte mich solch Schicksal später auch des Öfteren ereilen). Neu in meinem Bildungsportefeuille sammelten sich die Fächer Latein, Musik und Kunst an. Letzteres sorgte für den ersten Oberschul-Schmerz: Es galt, Siegfried beim Töten eines Drachen zu zeichnen. Möglicherweise hatte ich damals schon ziemlich abstrakte Bildvorstellungen. Jedenfalls riss mir nach drei oder vier Stunden die „Kunstprofessorin“ mein Blatt aus dem Block, lachte böse, hob es hoch, sodass es alle sehen konnten und höhnte: „Wollt ihr mal sehen, wie es aussieht, wenn man einen Kuhfladen mit dem Suppenlöffel umrührt?“ Damals gehörte strenge Kritik zur üblichen humanistischen Grundausbildung. Deshalb wurde mein Werk einen Monat lang in einem Glaskasten mit Namensnennung und Prädikat „ungenügend“ ausgestellt.
Tja, mit den Künsten hatte ich zu dieser Zeit ein schwieriges Verhältnis. Mein Harmonikaunterricht hatte gerade sein Ende gefunden, weil mein Tutor samt Akkordeon auf dem Gepäckträger seiner Horex 250 aus der Kurve getragen in den heimatlichen See fiel. Deshalb – Gott sei Dank – relativ weich. Instrument und Maschine waren futsch, mein Ausbilder verzog sich nach Österreich. Da stimmte es mich froh, dass ich im Schulchor des Gymnasiums dank meines glockenhellen Soprans bei der Aufführung von „Bastien und Bastienne“ in der ersten Reihe stehen durfte, direkt vor unserem enthusiastisch dirigierenden und mitsingenden Prof. Als sich ein kräftiger Tropfen Sangesfreude von seinem Gaumenzäpfchen löste und exakt in meinem Mund landete, war es mit der meinen zu Ende. Seither habe ich mich der Quantenphysik und der Börsenspekulation verschrieben und den Schwur getan, mich nie wieder mit bildender Kunst oder gar Musik zu befassen. Fortsetzung folgt – vielleicht …
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur