Sorry, es folgt eine zugegeben umfangreiche aber eventuell doch notwendige Exposition: Eigentlich schien sich doch im Rahmen der Digitalwende so viel zum Besseren zu entwickeln: von künstlicher Intelligenz gesteuerte Killer-Drohnen und Robot-Krieger. Umfassend klug formierte Bits und Bytes entschieden darüber, welcher IS-Grande (natürlich samt Familie), welcher üble Whistleblower, welcher irre Perspektivmörder technisch sauber eliminiert wird. Präsidenten und Generäle sitzen vor Bildschirmen in ihren Kaminzimmern, beobachten glücklich, wie die Welt aus ihrer Sicht und deshalb objektiv ein wenig besser wird. Waschen sich wechselseitig die Hände in Unschuld. Denn was kann schon der Ingenieur dafür, wenn sich die Technik mehr oder weniger selbständig macht? [Vorab aus Politik & Kultur]
Ganz zu schweigen von den Fortschritten bei der Humanisierung der Arbeitswelt. Wie viele eigentlich menschenunwürdige Berufe fallen dank einer potenten EDV endlich weg? Bibliothekare, Schauspieler (es gibt schon so tolle Hologramme), Postboten (dank Amazon-Drohnen), Lokführer (alles rollt sicher und automatisch), Verbandsfunktionäre, Dichter, Schriftsteller, Redakteure (Textomaten und Spielcharakter-Projektoren sind, einmal als selbstlernend programmiert – viel kreativer, flotter in der Umsetzung und preisgünstiger als ihre humanoiden Vorfahren).
Es gäbe noch viele Beispiele, wie man die Fron entfremdeter Zwangstätigkeit zwecks Broterwerb dank des digitalen Fortschrittes aus der wertvollen menschlichen Lebenszeit entfernen könnte. Dann würde es sich auch wirklich lohnen, die mithilfe steuernder Computer so lange ersehnte Verbesserung und Verlängerung unserer weltlichen Existenz in nahezu paradiesischen Umfeldern – Müll- und Klimaprobleme beseitigen in einem Rutsch intelligente Saug-Blas-Tech-Mecs – nicht nur für Milliardäre, sondern auch fürs gemeine Volk zu realisieren. Selbstverständlich das aus Asteroiden-Platin gewonnene bedingungslose Grundeinkommen für alle. (Sicherheitshalber: Ende des pseudodialektischen Vorspannes).
Könnte, wäre, Polit-Chimäre. Es ist letztlich die ökonomisch und deshalb auch ideologisch geprägte Konkurrenz sogenannter von unterschiedlichen Parteisystemen geprägten Völkern, die jeweils macht- und neidhammelgetrieben derartigen Garten Eden verhindern. In einem besonders lichten Moment im Rahmen des soeben beendeten „Afrika-Gipfels“ nannte unsere Bundeskanzlerin geschmeidig den digitalen Datenstrom das „Öl des 21. Jahrhunderts“. Nun ist dieses Bild schon ein bisschen schief, weil es sich bei den Bits und Bytes nicht um endliche fossile, sondern um schier endlose immaterielle Ressourcen handelt. Während man Öl durch Abfackeln, (Urlaubs-)Flüge oder Autofahren beseitigen kann, sind unsere digitalen Ströme supereasy dank Viren und sonstiger Schadsoftware zu vergiften, zu stoppen, vom Sinn in Unsinn zu verwandeln. Also bedürfen sie eigentlich besonderen Schutzes.
Während dankenswerterweise in den sogenannten sozialen Medien alle von mentaler Aggressions-Tollwut Befallenen energieverzehrend trimedial übereinander herfallen können und sich der Schaden meist in Grenzen hält, für Rechtsanwälte zunehmend in Umsatz wandelt, ist der vermutlich schon entstandene Schaden für die weniger Webaffinen riesig, der Nutzen für die Daten-Sammelausbeuter ebenso.
Da putzt es gerade grünlich oder sozialdemokratisch gesonnene, ebenso wie die „Piraten“ (ja, ein paar gibt’s noch) heraus, einerseits für diesen Schutz zu kämpfen, andererseits ein offenes Internet als demokratische Insignie auf der zunehmend bunt gefärbten Fahne zu führen.
Betrachte ich die zwangs-cookie-bedingt generierten circa 300 täglichen Spam-Mails trotz gestrengem Virenwächter in meiner Mail-Liste, gestatte ich es mir, Zweifel an verlässlichem Datenschutz anzumelden. Und dass auch Big Player von elektronischen Räubern erfolgreich überfallen werden, erfahren wir aus Schamesgründen selten, gelegentlich aber doch: Da werden überraschend Kraftwerke „fernabgeschaltet“, Amazon-Auslieferungen umgeleitet, Kundendaten der XYZ-Bank geklaut.
Und dennoch gibt es einen, der offensichtlich in die totale Sicherheit auch der intimsten menschlichen Daten beim Transfer von Hunderttausenden Computern in angeblich Fort-Knox-ähnliche elektronische Speicherwolken vertraut: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn forciert die Vernetzung aller bei Ärzten anfallenden individuellen Patientendaten via „Gesundheitskarte“ – angeblich anonymisiert und zu Forschungszwecken – samt Speicherung in „supersicheren“ Zentren.
Noch weigern sich Ärzte, bei diesem halböffentlichen Patienten-Zwangs-Striptease mitzumachen – wie lange noch? Vor einer minimalinvasiven Rücken-OP musste ich kürzlich eine ungefähr zehnseitige Erklärung unterschreiben, dass ich (die Narkose hatte schon leicht eingesetzt) mit ALLEM einverstanden sei. Auf die eingangs für Privatpatienten angebotene Lebensverlängerung „über 100“ glaube ich noch freiwillig verzichtet zu haben. Seither allerdings höre ich auf dem rechten Ohr fast stündlich und immer langsamer und tiefer das Lied „Hänschen klein …“. Es erinnert mich an einen Film von Stanley Kubrick, und ich fühle einen kleinen festen Knubbel neben der Lendenwirbelsäule …
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur