Es geht viel in Lateinamerikas vielfältigen Musikkulturen – das zeigte die aktuelle Ausgabe von Münsters Klangzeit-Festival, das zum ersten Mal einen Länderschwerpunkt präsentierte. Die Musik aus Gegenwart und klassischer Moderne dieses aufstrebenden Kontinents mit seiner statistisch gesehen sehr jungen Bevölkerung ist lebensnah und sinnlich, selten kopflastig und oft sogar dezidiert politisch. Es gibt so viele traditionelle und avantgardistische, urbane und ethnische Musikkulturen auf diesem Kontinent – und meist bietet schon ein einziges Land die ganze extreme Vielfalt auf. Dies wurde beim zweiwöchigen Konzertmarathon im Münsteraner Stadttheater, der Musikhochschule und dem Kulturzentrum Cuba deutlich.
Da hat ein überaus dynamisches Tanztheater die Lebensbedingungen der multinationalen Einwanderer in Buenos Aires in den Blick genommen: „El Galpón“ zeigt den Aufbruchsgeist, die Lebensfreude und die kulturelle Pluralität junger Menschen – aber die expressiven Gesten von Daniel Goldin artikulieren auch so viele Konflikte und einsame Sehnsucht in den riesigen Metropolen Lateinamerikas. Goldins Choreografien, die sich am Ideal der Folkwang-Tanztheaterschule orientieren und sich betont individualistisch vom klassischen Ballett lösen, waren zu diesem Zeitpunkt zum letzten Mal in Münster zu erleben. Denn unter der neuen Intendanz an den Städtischen Bühnen wird ein Nachfolger die Richtung auf der Münsteraner Tanzbühne neu bestimmen. Goldins nicht ganz freiwilliger Weggang aus Münster wird von vielen bedauert.
Faszinierend vielfältige und überaus hellhörig interpretierte Kammermusik bot faszinierende Einblicke ins kompositorische Schaffen des riesigen Kontinents. Reinbert Evers spielte im feinzeichnenden Duett mit dem Brasilianer Gustavo Costa unter anderem eine neue Komposition von José Gustavo Juliao de Camargo. Tief empfunden und assoziativ, kunstvoll an den Grenzen der Tonalität sich abarbeitend und extrem sinnlich zugleich waren diese Klänge.
Auf einem Kontinent, wo schon so viel gegen autoritäre Machtverhältnisse und Fremdherrschaft aufbegehrt wurde, ist ein starker politischer Aufbruchswille in der Musik nicht fern: Frederic Rzewskis Komposition „The people united will never be defeated“ spannt einen weiten Bogen, der aber der ohrwurmartigen Melodie des gleichlautenden chilenischen Revolutionsliedes ständig folgt. Daan Vandervalles Spielfluss auf dem Flügel transportierte hier genug umstürzlerische Energien. Das Liedthema ist ein Sprungbrett in einen Ozean voll stürmischer Virtuosität und ausgelebter Freiheit. Später fließt das Zitat von Hanns Eislers Solidaritätslied ein, solidarisiert sich gewissermaßen mit dem Lied aus dem lateinamerikanischen Freiheitskampf.
Das Leben auf diesem Kontinent als Aufbegehren gegen autoritäre Macht – diesem Aspekt huldigten weitere dezidiert politische Kompositionen: Mauricio Kagels „El Tribun“ parodiert das demagogische Gehabe eines Propaganda-Redners – was in Münster jedoch phasenweise arg geschauspielert wirkte. Aber Demagogie ist ja in ihrem Kern auch nichts anderes als verblendende Schauspielerei.
Der Länder-Schwerpunkt Lateinamerika sollte keine Ausschließlichkeit beanspruchen. Musikhochschulleiter Reinbert Evers pflegt seit Jahren ein internationales Netzwerk, in dem sich kreative Musikschaffende verbinden, befruchten und austauschen. Aufregend fremdartig, spirituell und regelrecht mystisch war das Gastspiel eines Frauenchors von der Lubliner „International School of Traditional Music“. Diese Damen pflegen den traditionellen, meist einstimmigen Gesang aus ihrer polnischen Heimat. Und stellten beim Klangzeit-Festival diese Kunst in den Dienst von etwas ganz neuem: Stephan Froleyks Komposition „Three Sounds“ kreiert ein faszinierendes Geflecht aus Stimmlauten, die am ehesten noch rituellem Rufen gleichkommen – im Kontrast zu assoziativen Geräuschgesten.
Das Zusammenwirken von Musikhochschule, Stadttheater und der „Gesellschaft für Neue Musik“ bringt immer wieder zeitgemäße Auftragsprojekte hervor. Reiche Früchte trug diesmal der persönliche Kontakt des künstlerischen Leiters des Sinfonieorchesters Fabrizio Ventura zum italienischen Komponisten Giorgio Battistelli. Dessen uraufgeführtes neues Werk „Pacha Mama“ wurde im Stadttheater enthusiastisch gefeiert – denn Battistelli weiß die sinfonischen Register zu ziehen. Mit einem hohen Maß an transparenter Klarheit werden die Klänge organisiert und rhythmische Passagen entfalteten zum Teil extreme Sogwirkungen. So funktioniert moderne Sinfonik auf der Höhe der Zeit. Die einsätzige Komposition ist übrigens eine Art „Prototyp“ für eine große Oper, die Battistelli im nächsten Jahr fertig stellen wird.
In ganz neue Farben tauchte das experimentelle Musiktheaterprojekt „Timeshift“ das Münsteraner Stadttheater. Es geht hier um Zeiterleben, doch diese Bedeutungsebene ist nicht wirklich auf Anhieb nachvollziehbar. Aber das braucht es auch nicht sein, denn das Hier und Jetzt wirkte sinnlich und intensiv genug. Unter der Gesamtleitung von Susanne Blumental waren gleich vier Komponisten beteiligt, um eine schillernde Welt aus Klängen, Rhythmen und Emotionen entstehen zu lassen. Raffiniert sind die Dialoge zwischen dem sinfonischen Orchester im Graben und einem Jazztrio, das im Zuschauerraum agiert.
Konventionen sprengen, Grenzen überschreiten und dabei jene Kunst präsentieren, die sich sonst allzu oft in verborgenen Nischen versteckt, ist das offenkundige und einmal mehr überzeugend eingelöste Anliegen dieses unprätentiösen, sich zugleich jeder aufgeblasenen Event-Kultur verweigernden Festivals.
„Viele Nationen haben sich bei ihrer Musikkultur sehr lange an Europa orientiert, manchmal vielleicht sogar zu einseitig. Augenblicklich findet hier eine starke Rückbesinnung auf eigene Traditionen und Einflüsse statt“, begründet Reinbert Evers die neue, auch geografisch betont grenzüberschreitend fokussierte Programmatik für das Festival.