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Foto: Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale, 2012
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Lebendiges Studienexempel der Operngeschichte: John Cages „Europeras 1&2“ zur Eröffnung der Ruhrtriennale

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„Erkennen Sie die Melodie!“, eine langjährige ZDF-Rateshow, hatte Opernszenen zunächst jeweils in falschen Dekorationen angesiedelt, Bühnenbilder und die „falschen“ Musikausschnitte hatten die Kandidaten zu erraten. Dieses Prinzip treibt Cage in seiner Doppeloper „Europeras 1&2“ auf die Spitze, indem er das musikalische Material, aber auch Dekoration, Kostüm, Bewegung und Licht, seines Zusammenhangs befreit und die von Wagner im Gesamtkunstwerk zusammengeführten Künste im Sinne einer Realutopie aus ihrem Zusammenspiel löst und individualisiert.

25 Jahre nach der Uraufführung in Frankfurt, zugleich zum 100. Geburtstag des Komponisten, kam John Cages Doppel-Oper „Europeras 1&2“ erstmals wieder zur Aufführung. Heiner Goebbels eröffnete damit programmatisch die von ihm geleitete Ruhrtriennale und erntete am Premierenabend, zugleich seinem Geburtstag, einen vollen Erfolg.

Anstelle eines Dirigenten bestimmen große digitale Uhren, auch fürs Publikum sichtbar, den Zeitablauf der ersten 90 Minuten von „Europeras 1“. Zu kurzen, repetierten Ausschnitten treten 64 „Truckeras“, Tonband-Montagen und Arien, deren Dauer und Tempo sich ebenfalls aus den Anweisungen ergibt, welche Cage nach dem Zufallsprinzip des chinesischen Iging ebenso präzise festgelegt hat, wie die Wege der Darsteller im Raum.

Jene 64 quadratischen Felder, auf denen der 1992 verstorbene Cage Sänger und Dekorationsteile der europäischen Operngeschichte platziert, wurden von Bühnenbildner Klaus Grünberg vergrößert, um die Tiefe der Jahrhunderthalle zu füllen. Im Gegensatz zur Frankfurter Uraufführung, sind die meisten der 32 Bühnenbilder in Bochum dreidimensional. Bühnenvorhänge fallen und öffnen sich, eine rot flammende Sonne wird errichtet und wieder demontiert. Die in gigantischen Ausmaßen gefertigten Naturhänger, barocke Gassen, und Perspektivdekorationen, kommen jeweils nur kurz zum Einsatz, um sogleich von einer perfekt funktionierenden, auf Rollern fahrenden Technik wieder eingerollt und abgetragen zu werden. Auch Felsbrocken unterschiedlicher Größe kugeln auf die Bühne und werden wieder weggerollt. Da die historischen Bühnenbilder von fahrenden Bodenrampen trefflich ausgeleuchtet werden, beschränkt sich das von Cage als besonderer Modernismus angestrebte Zufallsprinzip des Lichtes auf die 64 einzelnen Felder, sowie auf diverse Störmomente.

Kostümausstatterin Florence von Gerkan hat aus der Theatergeschichte berühmte und faszinierende Kostüme nach alten Abbildungen und Figurinen neu fertigen lassen, etwa eine historische Brünnhilde mit Speer oder Barockfiguren in Reifröcken, deren Anlegen besondere Augenweide schafft. Elektrotechnischen Bühnenhilfsgeräten gehört eine Szene, mit Giraffe, Gabestapler und Hydraulikturm, von der Staisterie collagiert mit kyrillischen Buchstaben.

Die aus 64 Opernführer-Inhaltsangaben zusammengesetzten Nonsens-Inhalte, welche Cage zur vorsätzlichen Verwirrung des Publikums in zweierlei divergierenden Uraufführungs-Programmheften hatte abdrucken lassen, werden bereits vor Beginn auf einer Übertitelanlage angezeigt und im Verlauf des Abend nach dem Zufallsprinzip projiziert. Zur Steigerung der Ungewöhnlichen wird eine „no education“-Jury von Kindern auf Ansage mit Applaus in der ersten Zuschauerreihe des stark ansteigenden Auditoriums willkommen geheißen.

Für die Umsetzung seiner Absicht, jene Opern, die Europa über 200 Jahre lang in die USA transportiert hatte, alle auf einmal zurück zu geben, hatte John Cage ein Musiktheater aus 128 Opern in 32 Bildern kreiert. Dafür hatte er ausschließlich tantiemefreies Material benutzt, das er aus jeweils 1 bis 16 Takten von Orchesterstimmen der Metropolitan Opera selbst fotokopiert hat. Die additiven Arien durften sich die Solisten selbst wählen.

So praktizieren es nun auch die aus 10 europäischen Ländern stammenden Solisten der Neuproduktion. Durch das seit der Uraufführung vergangene Vierteiljahrhundert sind weitere, viel gespielte Opern frei geworden; damit wird sehr viel stärker Musik aus dem 20. Jahrhundert eingebaut (Leos Janácek, Hans Krasa, Alban Berg), aber auch der heutigen Beliebtheit von Barockopern wird merklich Rechnung getragen.
Unterschiedlich starkes Raunen im Publikum zeigt den Grad der Wiedererkennung, vom Abendsegen aus „Hänsel und Gretel“, hier für Mezzo solo, über „Heiterkeit und Fröhlichkeit“ aus dem „Wildschütz“, den Spruch des Eremiten aus dem „Freischütz“, bis hin zu Maries Melodram aus dem „Wozzeck“.

Während, teils in repetierten Takten der solistischen Instrumente, teils in den Gesängen auch Opern von Michael William Balfe, Stanislaw Niewiadomski und Wilhelm Kienzl berücksichtigt werden, fällt auf, dass Meyerbeers und Halévys Werke in dieser großen Rückschau auf die europäische Operntradition gänzlich fehlen.

Im gestischen Bewegungsduktus setzt die Neuinszenierung auf tradierte historische Theatergestik. Das sinnentleerte, abstrakte und dezidierte Zusammenspiel gemahnt an Theaterformen von Bob Wilson, „Death, Destruction and Detroit“ ist bestimmender als eine optisch herangezogene Dekoration aus „Hoffmanns Erzählungen“, inklusive fahrender Gondelsilhouette, während auch Offenbach musikalisch unberücksichtgt bleibt. Optisch gemahnen 7 Säulenheilige an Hans Zenders „Stephen Climax“. 

Die Hommage an die europäische Operngeschichte könnte aktuell auch als ein Ausverkauf Europas gedeutet werden. Sichtbar teuer ist dieses Spektakel, dessen Ausstattung über 5 Millionen Euro verschlungen haben soll. [Anm. der Redaktion: Hier handelt es sich um einen Fehler, den wir bedauern: Gemeint war der Gesamtetat der Produktion nicht der Ausstattungsetat. Die Pressestelle der Ruhrtriennale gab hierzu folgende Auskunft: „Richtig ist, dass die Ausstattung von Europeras 1& 2 nicht einmal ein Zehntel des genannten Wertes und die gesamte Produktion unter 2 Millionen Euro gekostet hat.“] Aber Festspielintendant und Regisseur Goebbels betrachtet das Miteinander der Bereiche Technik und Kunst, den kommunikativen Probenprozess ausschließlich über Zahlen und ohne Emotionen, als eine sozialdemokratisches Vorgehensweise.

Wenn ein Fade out nach genau 90 Minuten „Europeras 1“ beendet, folgt eine große Applausordnung für die 10 Solisten, 26 Instrumentalisten, 20 Regieassistenten und das Heer von Statisten und Bühnentechnikern. Denn nach der Pause wird „Europeras 2“ ist die absolute Reduktion: nun agieren die 10 Sängerdarsteller auf einer Bühnenfläche mit 64 in die Breite angeordneten Karos, und die Aleatorik des Lichts zu den Oktetten beschränkt sich auf unterschiedliche Helligkeit, sowie im projizierten, realistischen Perspektiv-Bühnenbild auf Schatten und die rückwärts laufende Turmuhr. Einmal galoppiert auch ein schwarzer Hund über den menschenleeren Marktplatz.

Alles dies liegt bewusst jenseits jeglicher Bedeutung, und wenn in „Europeras 1“ eine Sängerin zu einer Arie aus Rimski-Korsakows „Schneeflöckchen“ ein Pelzkostüm trägt, dann ist dies ein ebenso zufälliger Volltreffer, wie Gurnemanz’ Erzählung, zeitgleich mit Erdas Warnung. „Fremde“, den Angaben der Komponisten widersprechende Kostümierungen sind allerdings nicht mehr befremdlich, sondern in neueren Formen des Regietheaters längst zur Selbstverständlichkeit geworden.

So aber auch die Rezeption des Klanges. Als Mozart im ersten Finale des „Don Giovanni“ drei Tänze synchron musizieren ließ, wollte er damit die Zuhörer diesseits und jenseits der Rampe in einen Ausnahmezustand versetzen. Aber heute kann kaum noch ein Besucher im Wohlklanggefüge der Mozartschen Komposition die Tänze individuell orten.

Ein ähnlicher Effekt stellt sich bei „Europeras 1&2“ ein. Schon die Auftraggeber Rainer Riehn und Hans-Klaus Metzger bestätigten dem Komponisten, dass scheinbar Alles in dieser gezielten Zufalls-Collage einem mittleren Zeitmaß folge und durchaus tonal klinge. Und ein Zusammenklingen des Doktors aus „Wozzeck“ mit der Ariette von Ännchen aus dem „Freischütz“ domestiziert geradezu die Dodekaphonie zu einem wohlklingenden Salonstück.

So gab es am Premierenabend nur Zuspruch und viel Applaus für die Macher und für die stimmlich großartig den tiefen Raum füllenden Solisten Ilse Eerens, Asmik Grigorian, Susanne Gritschneder, Liliana Nikiteanu, Karolina Gumos, Yosemeh Adjei, Robin Tritschler, Nikolay Borchev, Frode Olsen und Paolo Battaglia.

Weitere Aufführungen: 19., 21., 29., 31. August, 2. September 2012.

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