Eigentlich beschäftigt sich der Stuttgarter Komponist Georg Wötzer mit der experimentellen Musik, etwa der algorithmischen; jenem kompositorischen Verfahren also, bei dem die Töne eines Werks durch einen mathematischen Prozess berechnet werden – eine künstlerische Arbeit, die auch mit der Entwicklung von neuen Programmiersprachen verbunden ist. Im voll besetzten Kammermusiksaal der Stuttgarter Musikhochschule konnte man jetzt aber eine andere Seite Wötzers kennenlernen. Uraufgeführt wurden seine "Stuttgarter Schabbat-Lieder" für Stimme, Klarinette und Akkordeon – ein Zyklus in schönstem Moll und Dur.
Wötzer hatte sich dafür mit dem Stuttgarter Martin Widerker zusammengetan, der ihm die Melodien für seinen Zyklus lieferte. Die hat Widerker in Erinnerung an die volksmusikalischen Schabbat-Lieder seiner chassidisch-jüdischen Vorfahren, die er als Kind im alten Lemberg in Galizien selbst gehört hat, wiedererfunden. Die hebräischen Texte dieser "Nigunim" sind jedem frommen Juden bekannt als geistliche Dichtungen und Gebete. Sie handeln von den Verhaltensregeln am Schabbat, von leiblichen und geistigen Genüssen, die jedem winken, der die Gesetze einhält, besingen den Schöpfer und drücken ihre Freude aus über diesen schönen Tag. Schließlich schafft er durch sein Arbeitsverbot ja Zeit fürs Thora-Studium, für den Gesang und den Verzehr leckerer Speisen und Getränke.
Wötzer hat sich in seinem Zyklus aus zehn Liedern – inspiriert von den zugrundeliegenden Melodien – offenbar am Tonfall des Klezmers, der jiddischen Volksmusik, orientiert: an seiner modal ausgerichteten Harmonik, seinen Gegensätzen von Melancholie und Freude, seinen Rhythmen. Aber er hat etwas ganz eigenes daraus geschaffen. In seinen Schabbat-Liedern ist die Harmonik reicher und exotischer, der Tonsatz kunstvoll verwoben, Metrik und Rhythmik sind oft vertrackt und die Melodien und ihre Gegenstimmen von klassischer Geschmeidigkeit. Auf die klezmertypische Verzierungstechnik, die die Musik schluchzen, hicksen und lachen lässt, wird verzichtet.
Stefanie Faber an der Klarinette und Katjana Sedelmayr am Akkordeon stürzten sich konzentriert und energiegeladen in diese hochvirtuose Musik, meisterten die plötzlichen rasenden Steigerungen und Verdichtungen und setzten perfekt getimt die subtilen finalen Pointen. Selten nur bestand ihr Part in bloßer Begleitung, vielmehr umtanzten, umsprudelten und umgarnten ihre Stimmen den wohltimbrierten, sonoren Gesang von Bariton Frank Wörner.
Man hätte diesen Zyklus gerne am Stück gehört. Konzertdramaturgisch ungeschickt wurde aber nach jedem Lied unterbrochen und der Religionswissenschaftler Joseph Rothschild kommentierte langatmig, wiederholungsreich und mit salbungsvoller Stimme die Textherkunft jeder einzelnen Nummer. Das hätte man auch kürzer machen können.