Manchmal schreibt das Leben die spannenderen Geschichten. Während der Intendant Nikolaus Bachler dem Münchner Premierenpublikum die Absage von Vasselina Kasarova in der Rolle des Romeo mitteilt, verkünden die neuesten Nachrichten den Ausgang der Schlacht in Baden Württemberg. Dort haben zwar weder die Capuleti noch die Montecchi gesiegt, aber ein kleiner Farbsturz weg von Schwarz-Gelb hin zu Grün-Rot bringt die politische Routine ganz schön durcheinander.
Eingesprungen in München ist die irische Mezzosopranistin, Tara Erraught, und spätestens nach der Pause gibt es keinen Zweifel mehr, dass sie ihre tragende Rolle souverän ausgefüllt hat. Die 24 Jährige hatte nur fünf Tage Zeit, um ihre Partie einzustudieren; in München kennt man sie seit Herbst 2008 als Mitglied des Opernstudios, bei der letzten Premiere hat sie Das Kind („L'Enfant et les sortilèges“) gesungen.
Die Geschichte von Romeo und Julia, die den Hintergrund der Oper abgibt, ist durch Shakepeares Adaption zum literarischen Allgemeingut geworden. Bellini lag der Text jedoch nicht vor, und er setzt auch deutlich andere Akzente als der englische Renaissancedichter. Alexander Kluge bringt es auf den Punkt, wenn er diese Oper als „Ein Requiem über die verlorene Freiheit in der Liebe“ bezeichnet.
Im Mittelpunkt der großen Belcanto-Oper steht wiederum, wie in anderen Bellini Opern, eine tragische Frauengestalt. Giulietta wird zerrissen von ihrer Liebe zu Romeo, dem Feind der Familie, Mörder ihres Brunders und der Loyalität gegenüber ihrem Vater. Bei Bellini ist er es, der zum Mörder an seiner Tochter wird. „Sieh!“, ruft der Chor am Schluß der Oper: „Getötet! Von wem? Von dir, du Erbarmungsloser!“
Als menschliche Tragödie im Kammerstil – mit starken Bezügen zu Verdis Rigoletto – haben Vincent Boussard (Regie), Vincent Lemaire (Bühne) und Christian Lacroix (Kostüme) das Werk in Szene gesetzt. Das Team, dem in der Spielzeit 2009/10 an der Berliner Staatsoper eine überzeugende Umsetzung von Händels „Agrippina“ gelang, konzentriert sich stark auf die impressionistische Seite der Oper.
Berauschende Farben, sowohl der Kostüme, als auch der Bühnengestaltung, bewirken ein Weiteres. Das Liebespaar Romeo und Giulietta bewegt sich wie in einer hermetischen Traumwelt. Berührende Szenen großer Innerlichkeit sehen wir etwa, wenn Eri Nakamura (Giuletta) kurz vor ihrer Zwangsverheiratung mit Tebaldo (Dimitri Pittas) in klösterlicher Schutzlosigkeit das Hochzeitskleid abwirft und sich vor der Welt verkriechen möchte.
Eri Nakamura ist der Star des Abends. Es gelingt ihr nicht nur, die langen Kantilenen Bellinis mühelos zu meistern, sie zeigt einmal mehr, was italienischer Belcanto sein kann. Kein „schöner Gesang“, sondern zu Herzen gehende Expressivität und individuelle Ausdruckskraft.
Yves Abel (Musikalische Leitung) und das Bayerische Staatsorchester haben regen Anteil am Erfolg des Abends, der die manchmal betrübliche Gegenwart für ein paar Stunden vergessen machte.