Der dänische Regisseur Kasper Holten hat sich mit seiner epochalen Kopenhagener Inszenierung „Der Ring des Nibelungen“, die im Jahre 2006 auf DVD erschien (Decca 0473264), als einer der innovativsten Wagner-Regisseure bewiesen. Sein jüngst ebenfalls auf DVD erschienener Kopenhagener „Tannhäuser“, konzeptionell in Haus Wahnfried angesiedelt, mit Wagner, Gattin Cosima, dem jungen Sohn Siegfried und der späten Geliebten Judith Gautier als Protagonisten, geht allerdings nur im Venusberg-Akt voll auf (Decca 074 33990). Holtens Berlin-Debüt mit „Lohengrin“ wurde mit besonderer Spannung erwartet, erwies sich aber als weder in der Konzeption, noch in der Personenführung als ein herausragendes Ereignis.
Dies mag daran liegen, dass Holten, gemeinsam mit seinem Ausstatter Steffen Aarfing, den „Lohengrin“ auch schon in Moskau inszeniert hat – dort als einen Politkrimi zwischen altem und neuem Regime, mit Lohengrin als Putin im weißen Anzug, mit Krawatte und Pistole, der am Ende Medwedew als kleinen Gottfried präsentiert. Relikte davon sind auch noch in der Berliner Neuinszenierung zu finden, etwa wenn Lohengrin vor der Gralserzählung seine Notizkarten sortiert und überlegt, welche Geschichte er dem Volk nun auftischen könnte.
Aber in Berlin hat Lohengrin übergroße Schwanenflügel, die er sich, je nach Bedarf, anhängt oder abnimmt. Horn, Schwert und Ring, die er Elsa sonst für Gottfried als Wunderutensilien und Andenken übergibt, sind hier zu einer Umhängplakette geronnen, und auch die gibt Lohengrin dann doch lieber nicht her, denn er entschließt sich, als Führer bei den Brabantern zu bleiben. Gottfrieds Leiche wird von Elsa auf ein Podest gebettet, Lohengrin aber reckt die Faust zum kommunistischen Gruß empor – Ende.
Dabei hatte es durchaus spannend begonnen, mit einem Leichenfeld beim Vorspiel, als die von rückwärts aufgespulte Geschichte eines verlorenen, sinnentleerten Krieges. Kriegerwitwen brechen lautlos oder aufschreiend über den Leichen der Krieger zusammen, bis sich dann eine Courtine mit der poppigen Aufschrift „Lohengrin“ als Verheißung herabsenkt, auf dass Alles nun von vorne beginnen kann. Die überzeitlich, aber mit Bezug zum ersten Weltkrieg gewandeten Militaristen behalten ihre blutbefleckten Uniformen und ihre tödlichen Schusswunden in Stirne und Körper.
Die Führung der Chormassen ist gekonnt, aber doch eher konventionell. Ortrud führt Elsa vor Gericht. Kurz bevor ihr Kopf unter dem Schwert des Henkers fällt, erscheint hinter einer gigantischen Jalousie Lohengrin. Er befreit Elsa von Augenbinde, Hand- und Fußfesseln, aber sein Anblick erschreckt sie mehr, als dass er sie erfreut, – doch er ist ihr Retter, der zur Überrumpelung des Gegners Telramund im Zweikampf Blendung und Nebel einsetzt.
Ein überdimensionales, begehbares Kreuz dient als Elsas Balkon und dann als allgemeine Spielfläche. Der Zug zum Münster differenziert geschickt zwischen den einzelnen Abschnitten – und wenn der Chor nicht benötigt wird, schließt Lohengrin die Öffentlichkeit aus, indem er die Rückansicht eines Wagner-Vorhangs in halber Bühnentiefe zuzieht. Das Münster ist hinter einem weiteren Theatervorhang im Goldportal zu erblicken. Als Elsa sich den vergessenen Brautstrauß von der Souffleuse abholt, hat Ortrud die zuvor von Elsas Brautjungfern entfernten polizeilichen Umrisse einer Leiche (Gottfrieds?) als Schrecknis für die Braut erneuert.
Auch eher konventionell ist die Personenführung im Brautgemach, ebenfalls für die Öffentlichkeit im Spiel durch den Wagner-Vorhang verdeckt. Lacher löst der ungeschickte Tod Telramunds aus; gesteigert unfreiwillige Heiterkeit, als Lohengrin auf das – nur in dieser Szene doch einmal verwendete – Schwert kaum wieder in seine Scheide bekommt. Elsas „Anblick trüb und bleiche“ wird auf das unbefleckte Laken des Hochzeitsbettes bezogen, als Anklage des Nichtvollzugs der Ehe, gedeutet.
Zur konzeptionellen Betonung der Kriegsebene gehört eine realistisch gemalte Ansicht mit Kriegsgräbern. Die Forderung der Mannen an Lohengrin und dessen Endsieg-Prophezeiung hätten sich also trefflich eingefügt, aber der Dirigent wählte, überaus political correct, den großen, so genannten „Luft“-Sprung, der das Ende der ersten Strophe der Gralserzählung harmonisch ungeschickt mit dem Wiedererscheinen des Schwans verbindet. (Selbst in Bayreuth erklingt in der aktuellen Inszenierung hier deutlich mehr von Wagners originaler Komposition.) Den Gesang des Gottfried hat der Komponist allerdings selbst noch gestrichen, obgleich auch dieser heute ab und zu in Aufführungen zu hören ist (so in Plauen und in Solingen). Somit fällt es dem Regisseur nicht schwer, Gottfried als Leiche auftragen zu lassen; warum Lohengrin hier Wagners originales „Zum Führer sei er euch ernannt“ umändert in „zum Schützer“, bleibt ebenso fraglich, wie die Tatsache, dass das Ende – entgegen den Intentionen des Beginns der Inszenierung – sich nicht zum Anfang hin rundet.
Zu Recht erhält der von William Spaulding einstudierte Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin emphatischen Jubel, während die stimmlich nicht adäquaten Leistungen für die Interpreten von König (Albert Dohmen, guttural, mit mangelnder Höhe) und Telramund (Gordon Hawkins , grobschlächtig und ungenau) auch Buhrufe einstecken müssen. Ricarda Merbeth singt die Elsa mit wenig Ausdrucksnuancen. Um so mehr obsiegt Petra Langs runde Leistung als dramatisch stimmgewaltige Ortrud, wenn auch am Ende nicht ganz makellos in ihrer Intonation. Bastian Everink gefällt als schlanker, aber prägnant singender Heerrufer.
Auf seine Fans, auch an der Deutschen Oper Berlin (wo er jüngst eine CD mit Opernausschnitten eingespielt und veröffentlicht hat), kann der erst spät in diese Produktion eingestiegene Klaus Florian Vogt bauen, und er erntet Bravo-Stürme; Vogt hat an metallischem Glanz zugelegt, aber, um mehr Volumen zu entwickeln, forciert er nun bisweilen, was sich dann umgehend rächt. Bravos auch für Donald Runnicles’ exaktes, aber wenig differenzierendes, breites Dirigat: in seinem gepanzerten Klangbild spielt das Orchester der Deutschen Oper Berlin in Bestform. Ein besonderes Lob gebührt dabei der großartig differenzierten Bühnenmusik (abgesehen von einem Kickser im dritten Akt), gipfelnd in einer eindrucksvollen, quadrophonen Live-Beschallung aus den hohen Proszeniumslogen und im zweiten Rang, auf beiden Seiten der Zuschauer, beim Reitermarsch.
Die rasche Abfolge der Aufführungen, innerhalb von nur einem halben Monat, beweist, dass auch dieses Opernhaus inzwischen – zumindest partiell – dem Marktgesetz des Stagione-Prinzips folgt.
Weitere Aufführungen: 15., 19., 22, 25., 28. April, 1. Mai 2012