Am Anfang der Gattung Oper entdeckte Claudio Monteverdi die Figur der Persephone (lat.: Proserpina) für das Musiktheater: die Klage der von Hades (Pluto) geraubten, vergewaltigten und zur Königin der Unterwelt erhobenen jungen Frau. Doch die Partitur ist verloren gegangen. Siegmund Freiherr von Seckendorfs Musik für Johann Wolfgang Goethes Anverwandlung des mythischen Sujets in einer „dramatischen Grille“ („Der Triumph der Empfindsamkeit“), eineinhalb Jahrhunderte später entstanden, möchte heutigen Ohren allzu milde frühklassisch vorkommen.
Daher gab es plausible Motive, dass der Karlsruher Komponist Wolfgang Rihm noch einmal auf einen Text zurückgriff, der aus jener Zeit stammte, in der Goethe noch primär Erfolg als Texter von publikumswirksamen Singspielen suchte.
Proserpinas Solo-Auftritt erinnert an das Glück des früheren Lebens droben auf der Erde, klagt über die Freiheitsberaubung in der lieblosen Ehe mit dem Herrn der Finsternis, beschuldigt den ziemlich mächtigen Vater Zeus und die Mutter Demeter der unterlassenen Hilfeleistung, sehnt sich nach den Genüssen der Irdischen, vor allem dem Licht der Sonne. Dieser Monolog wurde wie ein Fremdkörper zwischen dem 4. und 5. Akt der schier unsäglichen Burleske um den „humoristischen König“ Andrason eingeschoben. Auch findige Germanisten wissen nicht genau zu sagen, wie und warum er entstand – ob als Auftrag aus Anlaß des Todes einer Nichte von Gluck oder im Andenken an Goethes Schwester Cornelia, deren Verlust den jungen Dichter heftig bewegte. Oder als Offerte für die vielbegehrte Weimarer Hofschauspielerin Corona Schröter, die wohl auf ihre Weise eine Gottheit der tieferen Zonen gewesen sein mag. Aber das ist alles Historie und Philologie – Rihm will Musiktheater auf der ästhetischen Höhe der Gegenwart kreieren. Er sucht es dort, wie er programmatisch verkündete, „wo es als nur durch die Musik begründbare Veranstaltung sich zeigt“.
Mojca Erdmann ist die Stimme und Seele, der die ganz auf alt-neue Klangsinnlichkeit und Schönheit gestellten Melodien von Wolfgang Rihm auf den schönen jungen Leib geschrieben wurden. Ein Kammerensemble, in dessen Tonsatz sich nicht nur Anspielungen auf Strauss-Partituren, sondern auch altmeisterliche Gesten finden, stützt ihr faszinierendes siebzigminütiges Solo vom kleinen Schwetzinger Graben aus. Von dort aus mischen sich auch Sängerinnen des Stuttgarter Rundfunkchors ein – als stimmintensive Parzen. Auf der Bühne selbst tummeln sich neben der rundum bewunderungswürdigen Sopranistin, die alle erdenklichen Facetten der Vokalkunst durchdeklinieren kann, nur drei stumme Brüder. Einer dieser Statisten schlüpft zeitweise in die Rolle des Pluto und reicht der radikal auf Diät gesetzten jungen Frau jenen Granatapfel, dessen Verzehr ihr Schicksal besiegelt.
Offensichtlich ist die beziehungsreiche Parallelität zum Biß in den Apfel, mit dem die Genesis den Sündenfall der dynamischen Eva und ihres zögerlichen Adam sowie die anschließende Vertreibung aus dem Paradies motiviert; anders als Eva weiß Proserpina nicht, welche Folgen der Verzehr hat. Der stumme Akteur hilft Rihms in der Hauptsache – der Vokalkunst – allein gelassener Sopranistin aus dem Kleid; sie verschwindet hinter einem von den beiden anderen szenischen Gehilfen rasch aufgehängten weißen Vorhang und beginnt in eindeutiger Weise zu stöhnen (auch mit der Lust im Leid ist sie allein auf sich verwiesen). Natürlich minutiös auskomponiert. Die beiden Assistenz-Akteure haben zuvor Schnitzel aus ihren Büstenhaltern geholt, sie zur Pfanne auf einem Camping-Grill getragen. Wie höllisch! Überhaupt lassen sie Hans Neuenfels und die assistierende Regisseurin Beate Baron mancherlei hinzugefügte Symbole vor- und zurücktragen.
Das Zwischenspiel in der Farce von der triumphierenden Empfindsamkeit sieht „eine öde felsige Gegend“ vor – mit einer „Höhle im Grund“. Die von Gisbert Jäkel entworfene Bühne entfernte sich, wie es Standard ist beim neueren deutschen Theater, von der Natur. Der Raum erinnert mit Behandlungsliegen, später einem Gynäkologenstuhl, Schere und Maßband entfernt an eine therapeutische Einrichtung, verrät aber nicht deren genauere Bestimmung und Betriebsweise. Er rahmt also das, was man in gewisser Weise als moderne Vorhölle ansehen mag.
Rihm schlägt sich im uralten Streit um den Primat des Worts bzw. der Musik in der Oper radikal auf die Seite derer, die die Legitimation von Musiktheater ganz oder überwiegend in der kompositorischen Anstrengung sehen. Das ist erstaunlich bei einem Homme de lettre, von dem mehr zu erwarten ist als solche Einseitigkeit pro domo und der ja wohl weiß, daß Musik im Theater etwas anderes bedeutet als in kontemplativer Konzentration gegenüber dem Konzertsaalpodium oder der häuslichen CD. So kann es kommen, daß ein so hoch intellektueller und wortgewaltiger Künstler mit erhabener Kulturgeste neben das Theater greift, statt in dessen volle Möglichkeiten auf der Höhe der Zeit.