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Der französische Komponist Henri Dutilleux in seinem Pariser Studio auf der Ile St. Louis im Oktober 2004, aufgenommen von unserer Redaktionsfotografin Charlotte Oswald.
Der französische Komponist Henri Dutilleux in seinem Pariser Studio auf der Ile St. Louis im Oktober 2004, aufgenommen von unserer Redaktionsfotografin Charlotte Oswald.
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Magische Erzählkraft, glühende Intensität

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Henri Dutilleux ist im Alter von 97 Jahren gestorben
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Der Ernst von Siemens Musikpreis wurde 1974 gestiftet: erster Preisträger – der Engländer Benjamin Britten. Der zweite, schon ein Jahr später, ein Franzose: der Komponist Olivier Messiaen. Dann 1979 wieder ein Franzose: Pierre Boulez, der damals gerade in Bayreuth den „Jubiläums-Ring“-Zyklus dirigierte. Und dann: Dann geschah ein Vierteljahrhundert gar nichts – das Musikland Frankreich war für die Siemens-Juroren eine Terra incognita, eine musikalische Wüste, was nicht ohne Weiteres an den französischen Komponisten und Interpreten gelegen haben muss, auch Juroren können keine Ahnung haben.

Aber ein Vierteljahrhundert später war es endlich wieder einmal so weit, auch Jurorenbesetzungen wechseln. Der gekürte Träger des Siemens Musikpreises 2005 hieß: Henri Dutilleux, der neben den oben genannten eine Art Dreierspitze der französischen Gegenwartskomponisten nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentierte. Es war ein bewegender Augenblick, als der damals neunund­achtzig Jahre alte Komponist den Preis aus der Hand Dieter Borchmeyers in den Münchner Kammerspielen entgegennahm. Und mit ihm begeisterten sich auch die deutschen Musikfreunde, die sein Schaffen kannten und wussten, dass hier endlich ein Komponist ausgezeichnet wurde, der es schon seit Langem verdient gehabt hätte.

Hierzu könnte man auch den prophetischen Ausspruch Schönbergs über Alexander Zemlinsky für Dutilleux reklamieren: Dutilleux kann warten. Von dem eher schmalen Œuvre des 1916 in Angers geborenen Komponisten erklang bis dahin nur sehr selten etwas. Immerhin widmete das Bruckner-Haus in Linz ihm einmal ein kleines Festival, das den nichtfranzösischen Blick auf ein eigengeprägtes kompositorisches Schaffen schärfte. Dutilleux bewahrte stets Abstand zur jeweiligen Avantgarde und deren Hauptprotagonisten und ihren Prämissen. Den „ästhetischen Terrorismus“ des Serialismus lehnte er konsequent ab, der Wiener Schule, vor allem Anton von Webern brachte er großes Interesse entgegen, ohne dass ein wesentlicher Einfluss entstand.

Dutilleux tastete sich, seinem Naturell entsprechend, eher behutsam zu einer individuellen Musiksprache vor. Ravel findet sich in frühen Arbeiten, die er aber später verwarf. Wichtiger wurden Jolivet, Roussel, Milhaud und Poulenc für ihn, ohne dass sich Dutilleux jemals einer Gruppe eng angeschlossen hätte. In seiner Orchesterkomposition „Timbres, Espace, Mouvement“ bündelt sich prismatisch Dutilleux‘ Komponierstil: die permanente Entwicklung der Musik aus kleinen Grundeinheiten, die in der Metamorphose sowohl die endgültige Gesamtgestalt eines Werkes wie dessen innere Struktur bestimmen.

Dutilleux‘ Musik bewahrt auch noch da, wo sie sich spezifisch französisch-süffiger Klangkoloristik hingibt, eine leicht kühle Distanz und beherrschte formale Klarheit, die sich aus der kontrollierten Verarbeitung des musikalischen Materials ergibt. In seiner ersten Sinfonie von 1950 nimmt Dutilleux durch die Parzellierung des Instrumentariums die Idee eines „Musizierens in Gruppen“ auf, in der zweiten Sinfonie konfrontiert er das Hauptorchester mit einem zwölfköpfigen Kammerorchester, was einen heute schon fast modisch gewordenen „Raumklang“-Effekt erzeugt.

Das sind, ebenso wie die „wuchernden“ thematischen Durchdringungen des für Rostropowitsch geschriebenen Cello-Konzerts (1970) durchaus avancierte kompositorische Techniken, die den Komponisten vor jedem Anflug des Traditionalistischen bewahren.

Als Dutilluex 2005 der Siemens-Preis zuerkannt wurde, würdigte unser Redaktionsmitglied Reinhard Schulz in der neuen musikzeitung ausführlich die Bedeutung des Komponisten für die Neue Musik. Wichtig war dabei die Erkenntnis, dass Dutilleux‘ Musik über alle formalen und strukturellen Grundlagen hinaus auch eine gleichsam existenzielle Dimension auszeichnet: „ Im Inneren der Musik, in den Kräfteparallelogrammen von Klang, Farbe und Linie glüht es in sprechender Intensität. Die Werke bestechen durch eine geradezu magische Erzählkraft, die ihre Wurzeln in einem nur ihm eigenen Amalgam aus Harmonik und Klangfarbe hat.“

Reinhard Schulz vermisste bei vielen heutigen Komponisten oft die Transzendenz, den Entwurf von Utopien, weil nur diese die Musik gleichsam von innen heraus zu neuen Ufern zu führen vermögen. Bei Dutilleux erkannte er dieses Utopische: „Im Hinblick auf die bedeutungsschwere, magische Gestaltung des Klangs ging er an Grenzen und entdeckte reiches Neuland“ – so noch einmal Reinhard Schulz, an den wir uns bewegt hier erinnern möchten, weil sein musikalisches Denken und Fühlen mit dem Schaffen Henri Dutilleux‘ in wunderbarer Übereinstimmung stand.

Jetzt ist Henri Dutilleux im Alter von 97 Jahren in Paris gestorben. Er wird nicht vergessen werden: Sein Werk ist glücklicherweise fast vollständig auf Schallplatte und CD dokumentiert in durchweg hochkarätigen Darstellungen.

Eine Aufnahme ragt dabei besonders hervor: 1967 wurden „Le Double“ -Sinfonie sowie „Métaboles“ vom großen Charles Münch in Boston mit dem dortigen Orchester uraufgeführt. Münch hatte die Sinfonie 1959 in Auftrag gegeben. Zitat Münch über Dutilleux: „Das Beste, was wir momentan führen“. Zwischen Dutilleux und Münch, der ein sehr klangbewusster, klangsensibler und zugleich ein klar formender, weitsichtiger Dirigent war, hatte sich eine von Hochachtung und sehr persönlicher Zuneigung geprägte Freundschaft entwickelt.

Etwas von dieser seelischen Korrespondenz scheint in diese Aufnahme eingeflossen zu sein. Ein bewegendes, wunderbares Dokument.

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