Es dürfte nur wenig Theater weltweit geben, bei denen das Verhältnis von Angebot und Nachfrage so weit auseinander klafft, wie in Bayreuth. Auch wenn es bei den Bestellungen von ehemals 10:1 inzwischen auf 6:1 gesunken ist, als Normalsterblicher ohne Promibonus wartet man in der Regel immer noch mindestens sieben Jahre, bis eine der ersehnten Karten im Briefkasten landet.
Da hilft es auch nichts, dass sich die Regieästhetik, die von den beiden Halbschwestern an der Festspielspitze angestrebt wird, zunehmend an ein jüngeres Publikum wendet, dem Experimente weniger stark aufstoßen als den alteingesessenen Wagnerianern, die ihr Heiligtum durch Herren wie Schlingensief, Herheim und Co. entweiht sehen. Aber selbst wenn der Altersdurchschnitt drinnen im Zuschauerraum weit jenseits der 50 liegen mag und die Kartenvergabe immer wieder ins Kreuzfeuer gerät, ein wenig geöffnet hat sich der lange Zeit so starre Festspielapparat inzwischen doch. Zum Beispiel mit Aktionen wie dem großen Public Viewing auf dem Bayreuther Volksfestplatz, das am 14. August mit der Übertragung von Wagners „Lohengrin“ bereits in seine vierte Saison geht.
Der technische Aufwand dazu ist enorm, aber in den letzten drei Jahren bereits bestens erprobt. Kaum merklich für den Zuschauer im Saal sind hier die zwölf Kameras postiert. Versteckt hinter Säulen, unter dem Schalldeckel des Orchestergrabens oder im Schnürboden. Eine sogar im Souffleurkasten, was dank Kooperation der geduldigen Stichwortgeberin völlig neue Perspektiven eröffnet. Der Mann, der den Überblick über diese Flut von visuellen Eindrücken behalten muss, ist Bildregisseur Michael Beyer, der mit seinem rund 30-köpfigen Team bereits bei der Generalprobe im Einsatz war. Einmal, um für die demnächst erscheinende DVD ein Backup zu haben, und natürlich auch um zu testen, ob das minutiös ausgearbeitete Regiebuch mit seinen 1064 notierten Kameraeinstellungen sich auch in der Praxis bewährt. Schließlich hat Hauptsponsor Siemens für die Live-Übertragung hohe Standards angesetzt, und zusätzlich in eine neue, diesmal sogar 180 Quadratmeter große Leinwand investiert, die dank neuester Technik kein Detail unter den Tisch fallen lässt. Und zu sehen gibt es einiges in der Umsetzung von Hans Neuenfels. So viel manchmal, dass auch die Kameras gar nicht alles zeigen können. „So eine Übertragung ist immer eine Interpretation.“ Räumt Beyer ein. „Aber man kann ja schließlich nicht drei Stunden lang eine Totale zeigen. Das wäre für die Zuschauer auch nichts.“
Obwohl Hans Neuenfels für seine Detailbesessenheit berühmt ist, Einfluss auf Bildregie nimmt er nicht. „Da halte ich mich ganz raus. Ich bin für die Inszenierung verantwortlich, nicht fürs Abfilmen.“ Und mit drei neu besetzten Hauptrollen gab es für den Regie-Altmeister auch so reichlich zu tun. Gut findet er die Aktion trotzdem. „Früher hätte ich das wahrscheinlich anders gesehen. Aber heute gehört so etwas einfach dazu. Man muss sich öffnen, auf die Leute zugehen.“ Und gewährt wird der Einblick in Festspielhaus nicht nur denen, die draußen auf dem Volksfestsplatz ausharren. Auch am PC lässt sich die Aufführung verfolgen, die parallel zum Public Viewing mit einer Auflösung von bis zu 2,5 Mbit/s in bestem HD ins Netz eingespeist wird. Zumindest in unseren Breiten dürfte die kostenpflichtige Nutzung dieses Webstreams allerdings ein wenig einbrechen. Denn erstmals in der Geschichte des Grünen Hügels wird diese Vorstellung auch live vom TV-Sender Arte übertragen. Auf ein Highlight der der diesjährigen Festspiele muss man dabei allerdings verzichten. Denn die Aufzeichnung der Kinderoper gibt es nur vor Ort zu sehen, wo Maximilian von Mayenburg aus 16 Stunden „Ring“ eine humorvolle 90 Minuten-Version destilliert hat, deren Aufführungen beinahe genauso schnell ausverkauft waren, wie das traditionsreiche Festival selbst. Aber wenn der nun von Wagner infizierte Nachwuchs jetzt schon mal zu bestellen anfängt, dann klappt es ja vielleicht schon zum Abi auch mal mit einer richtigen Festspielkarte.