Wie York Höllers Hauptwerk „Der Meister und Margarita“, das vor einer Woche die Opernsaison in Hamburg eröffnete, könnte die einzige Oper von Höllers Lehrer Bernd Alois Zimmermann nun definitiv ins Repertoire einziehen. Größere Häuser scheinen „Die Soldaten“, die 1965 im Vorfeld der Kölner Uraufführung unter Leitung von Michael Gielen für unspielbar gehalten wurde, nun durchaus und bravourös zu bewältigen – im vergangenen Jahr stellten dies die Salzburger Festspiele mit den Wiener Philharmonikern und Ingo Metzmacher unter Beweis, nun die in moderne Kampfanzüge gesteckten Züricher Philharmoniker unter dem in Offizierskluft befehlsgebenden Marc Albrecht. Für die Inszenierung hatte der Intendant Andreas Homoki den für seinen Hang zum Martialischen bekannten Calixto Bieito verpflichtet.
„Für die Filmaufnahmen, die für diese Inszenierung entstanden sind“, so ist auf den Monitoren in den Foyers des Züricher Opernhauses zu lesen, „wurden weder Tiere gequält noch getötet“. Der Hahnenkampf zum Beispiel, der das Treiben der Offiziere im Nordfrankreich des 18. Jahrhunderts illustriert, entstammt einem Dokumentarfilm – und die Maden, die über die Kadaver des Federviehs kriechen, wurden nicht getötet. Nein: gequält werden in der Inszenierung von Calixto Bieito erwartungsgemäß nicht Tiere, sondern Menschen: Der Tuchkaufmann Stolzius und dessen ebenfalls aus dem mittelbürgerlichen Milieu stammende Verlobte Marie Wesener, die doch nur ein bisschen höher hinaus will. Sie wird vom Baron Desportes verführt, aber relativ rasch an den Offizierskollegen Mary weitergereicht. Das „gute Herz“ gerät dann an den jungen Grafen de la Roche und, schlimmer noch, an dessen Mutter und so endgültig auf „die schiefe Bahn“: Ins übelste Elend.
Mit Maries weichen Knien geht es um das, was die zeitgenössischen Stiche William Hogarths als „A Harlot’s Progress“ darstellen und was von Michael Jakob Reinhold Lenz 1776 in Form einer Komödie als Anklage gegen die an Kriegsführung grenzenden Manieren der Militärs im eigenen Land gedacht war. Bernd Alois Zimmermann überwölbte die Komödie aus der Rokokozeit mit der gewaltigen Wucht seiner komplexen Musik. Er meinte es unter weitest gehender Hintansetzung der Lustspielmomente bitter ernst in der ersten Phase der heftig kontrovers diskutierten Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. So komplex Zimmermanns Musik mit ihren simultanen Aktionen sich türmt, so denkbar einfach entwickelt sich die Handlung der „Soldaten“- Oper: Gesungen wird vom kurzen Glück und großen Unglück der Marie Wesener. Die dänische Sopranistin Susanne Elmark baut die Partie überzeugend auf: Erst ist sie der bange Backfisch mit einem wachsenden Potential an Neugier, singt dann das kurze Glück der schönen Geliebten hell hinaus und präsentiert Leid und Verzweiflung im großen Bogen ihrer zielsicheren Stimme.
Rund 120 modern uniformierten Züricher Orchestermitglieder türmen sich sichtbar hinten auf der Bühne. Sie gelangen auf einer ansteigenden Arbeitsplattform zwischen hoch aufragendem Metallgestänge zum Einsatz. Durch diese optische Dauerpräsenz verschafft sich die in so vielen Idiomen beredte Musik auf besonders intensive Weise Gehör. Unterm Kommando von Oberst Albrecht wird der Kontrastreichtum ausdifferenziert. Die Zitate, vornan die des Dies irae und der Bachschen Matthäus-Passion, erzielen die intendierten angreifenden, anrührenden und anheimelnden Wirkungen. An ihnen hat, neben Marc Albrecht in der Showstar-Position, Vladimir Junyent als Maestro suggeritore mit stechend scharfer Zeichengebung besonderen Anteil – er vereinigt von der ersten Zuschauerreihe aus die Funktion des Ko-Dirigenten mit der des Souffleurs.
Unterm Orchester kommen die Sänger aus Katakomben. Die Offiziere mit ihrer Entourage und die Bürgerskinder, an denen sie sich gütlich tun und die sie auf dem Müllhaufen der Geschichte landen lassen, bespielen (z.T. in Simultanszenen) die leere Fläche. Sie tun es weithin mit outrierten, mitunter unfreiwillig komisch anmutenden Gesten und Nebentätigkeiten – so, als wäre die Personenführung der Opernregie in Stummfilmzeit stehen geblieben und die Hauptakteurin Marie etwa eine kleine Angestellte der 1920er-Jahre. Überdeutlich wird den Zuschauern vor Augen geführt, dass es sich bei diesem Offizierscorps um einen Saustall handelt. Klar doch: Bieito zeigt keine eleganten Verführer, sondern nur plumpe und brutale Vergewaltiger (wobei sich die Spannung des Lenzschen Schauspiels freilich gerade durch das Verhältnis von autoritär-patriarchalischer Ordnung mitsamt der nachbarschaftlichen Kontrollkollektivität und dem Selbstbestimmungsrecht einer keineswegs nur geduckten Jugend in der Sturm- und Drangzeit konstituiert).
Das zu fast beständiger Übertreibung, wiederkehrender Überzeichnung von Figuren und Situationen inklinierende Theatermachen von Calixto Bieito, das spätestens bei häufigerem Genuss auf die Nerven geht, gibt auch im Detail manches Rätsel auf. Warum wird beispielsweise beiläufig auch Maries brave Schwester Charlotte, die mit den Soldaten nicht das Geringste am Hütchen hat, vergewaltigt und mit dem Messer ins Gesicht geschnitten? Warum schlägt die Gräfin de la Roche, die Marie in ihren Haushalt aufnehmen will, so ausgiebig und heftig mit ihrer Handtasche auf sie ein? Gewiss, die Aristokratin will das „gefallene Mädchen“ unter dem Vorwand, helfen und zur Wiederherstellung des guten Rufs beitragen zu wollen, unter ihre Kontrolle bekommen und schon das hochherzig klingende Angebot enthält Momente der Demütigung. Doch die Übersetzung ins derart Handfeste ignoriert nicht nur vorsätzlich die Usancen des aristokratischen Milieus im 18. Jahrhundert (was der einfachen Unkenntnis geschuldet sein mag), sondern verkennt die verletzende Wirkung von Worten.
Das wirft die nachgeordnete Frage auf, ob es sich bei der Bestellung von Bieito zum Regisseur eines von historischem Materialismus aufgeladenen Werks nicht doch um einen ziemlichen Irrtum handelt. Der freilich behauptet sich hartnäckig in einer Zeit, in der das Dilettieren der „Quereinsteiger“ im Regiegewerbe von einem übersatten Publikum als Kitzel goutiert wird und es nur mehr auf optische Extremreize der schönsten oder hässlichsten Art anzukommen scheint. Feinere Tinten sind jedenfalls die Sache des Katalanen mit dem Berserker-Getue nicht. Dass Marie Elmark am Schluss ausgezogen und mit drei Liter roter Farbe übergossen wird, unterstreicht Bieitos Willen, „in der Brutalität auch eine Poesie zu zeigen“ (Programmheft, S. 15). Für die Züricher war sowas, anders als für das aufgeschlossenere Publikum nebenan in Basel und Freiburg, neu – jetzt, wo Calixto Bieito aufs Rentenalter zugeht.