Am zweiten Tag der 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin war im Rahmen der Retrospektive „Die rote Traumfabrik“ als „Berlinale Special“ der legendäre Film jenes deutschstämmigen Regisseurs zu erleben, der 1939 – anlässlich des Deutsch-Sowjetischen Geheimabkommens – auch eine höchst unkonventionelle „Walküre“ inszeniert hat. Die rekonstruierte Fassung von Sergej M. Eisensteins Film „Oktober“, in der Sowjetunion lange unter Verschluss, kommt dem Original sehr nahe. Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Frank Strobel ist sie der Uraufführung qualitativ dabei haushoch überlegen.
„Oktjabr“, so der Originaltitel des Films, entstand als Auftragswerk zur Feier des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution. Da zum Zeitpunkt der Uraufführung, am 14. März 1928 im Bolschoi-Theater, bereits mehrere Mitstreiter Lenins in Ungnade gefallen waren und in Stalins Geschichtsbild ausradiert werden sollten, war der Film schon bei seiner Uraufführung deutlich verkürzt. Anschließend wurde er in Russland nicht mehr gezeigt und blieb dort bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts unter Verschluss.
Während 1967, zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, Grogori Alexandrow eine Kurzfassung erstellte, bei der die Bilder der 12. Symphonie Dimitrij Schostakowitschs angepasst wurden, erwarb das Münchner Filmmuseum in den 70er-Jahren eine Kopie der Fassung von 1928, die nunmehr durch weitere Sequenzen aus dem EYE Film Instituut Amsterdam und dem Bundesfilmarchiv ergänzt wurde. In dieser Fassung spielt der in der Version von 1928 fast vollständig eliminierte Trotzki nunmehr wieder eine bedeutendere Rolle, – allerdings werden auch im neuen Nachspann nur die Darsteller Wasili Nikandrow, Nikolai Popow, Boris Liwanow, Nikolai Podwojski und Eduard Tissé (als deutscher Soldat) genannt, wohingegen der Darsteller des Trotzki ungenannt bleibt.
Liest man die zeitgenössischen Berichte, so war die Berliner Premiere von „Zehn Tage, die die Welt veränderten“, am 2. April 1928 im Tauentzien-Palast, ein Misserfolg, obgleich Edmund Meisel (1894–1930) als Theatermusiker bei Piscator, Brecht und Jessner ein berühmter junger Komponist war, dessen Filmmusik zu Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ großen Erfolg geerntet hatte. Die Besucher der deutschen Erstaufführung erwarteten sich wohl einen weiteren Film im Stile des „Panzerkreuzer Potemkin“, wurden aber mit einer rasanten Bilderfolge der zehn Jahre zurückliegenden Oktoberrevolution konfrontiert und fühlten sich von dieser ungewöhnlichen Form einer nachgestellten Dokumentation ebenso überfordert, wie von der im besten Sinne avantgardistischen Filmmusik Edmund Meisels.
Die von Meisel selbst umgearbeitete, und von 160 Minuten auf zwei Stunden verkürzte Partitur erklang in Berlin, wo auch Eisensteins Vater seit seiner Emigration im Jahre 1918 lebte, mit einem Orchester von 70 Instrumentalisten, war aber schlecht probiert und selten synchron mit der Filmhandlung. Von dieser Fassung haben sich nur ein vom Prometheus Film-Verleih gedruckter Klavierauszug, sowie einige Streicher- und Schlagwerkstimmen erhalten. Der 1957 geborene Mainzer Komponist Bernd Thewes hat zum rekonstruierten Film eine schlüssige Synchon-Einrichtung erstellt und die Partitur um die fehlenden Orchesterstimmen ergänzt.
Wie viel nun klanglich von Meisel stammt, oder was erst auf die Bearbeitung von Thewes zurückzuführen ist, – das Ergebnis ist in jeder Hinsicht gewaltig. Mit der ihm eigenen Perfektion der Synchronität entfaltet der Dirigent Frank Strobel mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester fesselnd ein plastisches Klangbild.
Meisel hat, wie die erhaltenen Stimmen belegen, die Streicher ausschließlich in mittleren und tiefen Lagen, sowie zur Begleitung einsetzt. Die Melodien gibt er den Bläsern. Auch Flageoletttöne, etwa beim Vibrieren der Glasperlen an den Lüstern des kaiserlichen Palastes, erfolgen in seiner Partitur in den Flöten, nicht in den Streichern. In scharfem Gegensatz dazu ertönt das bereits in der Uraufführung als dominant beurteilte Schlagwerk, mit artifizieller Umsetzung sowohl von Gewehrsalven, als auch der des reihenweisen Zerbrechens von Sektflaschen im kaiserlichen Weinkeller und der Detonation von Sprengkörpern.
Eisensteins unglaublich rasche und in ihrer Abfolge der Bildsequenzen keineswegs realistische Schnittfolge, erweist sich als Vorläufer der Videocliptechnik. Humoristische Wirkungen, die der Regisseur dabei immer wieder gezielt einsetzt, werden auch von der Musik aufgegriffen. Wenn die Genossin Soldatin bene einer nackten Statue eigenen Liebesträumen nachhängt, wählt Meisel einen Lehárschen Unterhaltungston, und wenn die Menschewiki singen, zeichnet dies das volle Orchester mit einem leidvollen Swing zur solistischen, gestopften Trompete. Das Stampfen der Schritte der Marschierenden zeichnet der Komponist mit col legno und gezupften Bässen. Eine einprägsame klangliche Chiffre, die sich auch beim Tanz auf Filzschuhen einstellt, jener durch ihre Schnitttechnik wohl eindrucksvollsten Tanzszene der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. Der nahezu realistische klangliche Nachvollzug von Geräuschen macht aus diesem Stummfilm ein Pendant zu dem sich gleichzeitig entwickelnden Genre des Tonfilms, gipfelnd in einem durch die Holzbläser erzeugten Stimmengewirr.
Aber nicht immer folgt die neue Orchestrierung den in rascher Abfolge ironischen und pathetischen Visionen Eisensteins; während etwa in der Filmhandlung drei Harfen aufspielen, gibt es in dem mit 90 Instrumentalisten besetzten Rundfunkorchester nur eine Harfe zu hören.
Große Begeisterung im voll besetzten Friedrichstadt-Palast, – auch bei blinden Besuchern, die diesen Film in einer von der Deutschen Sehbehinderten-Stiftung erstellten Audioversion genießen konnten.
Ausstrahlung des Mitschnitts in ARTE-TV: 15. Februar 2012, 23 Uhr.