Musik „erkunden“ an den „Grenzen des Schicklichen, des Verpönten, des politisch Ungewollten“. Festivalleiter Richard Lorber und seine Dramaturgin Sabine Radermacher haben die 34. Tage Alter Musik an „Tabus“ kratzen lassen. Kein Wunder, dass sowas auch mit Schmerzen verbunden sein kann.
Herne, im November. – Draußen nieselt es seit Stunden. Drinnen füllt sich, allen Wetterkapriolen zum Trotz, die neogotische Kreuzkirche gleich neben dem Herner Kulturzentrum bis auf den letzten Platz. Manche Besucher haben sich, uselig wie es ist, in Decken gewickelt. Keine leichte Aufgabe für Allessandro Quarta und sein Ensemble, das ohnehin unterkühlte westfälische Temperament auf Betriebstemperatur zu bringen. Immerhin, man ist da! Zu verlockend die Kunde vom ersten bundesdeutschen Gastspiel von „Concerto Romano“ aus Roms Kirche Santa Maria in Vallicella.
Allessandro Quarta tut, was er kann. Und das ist nicht wenig. Seine exzellenten zwölf Vokalisten und Instrumentalisten dirigiert er mit federnden Armen. Dazu versetzt er seinen Unterleib in tänzelnde Bewegungen als hätte er bei Scheherazade persönlich den Schlangentanz einstudiert. Das westfälische Publikum registriert die erotisierende Performance mit ungläubigem Staunen. „Sancta hilaritas“! Tatsächlich hat Quarta (Dirigent, Musikwissenschaftler, Sänger und Komponist, der er ist) die Kultur des „Heiligen Frohsinns“ im Notenarchiv von Santa Maria in Vallicella aufgespürt.
Dort, im geistlichen Zentrum eines vormaligen römischen Armenviertels – heutige Sozialarbeiter sagen „Brennpunkt“ – haben Philippo Neri und die Oratorianer einst ein besonderes Kapitel musikgestützter Laienmission geschrieben. In Missachtung der Regeln des Tridentinischen Konzils hat Priester Neri das Evangelium in Vallicellas dunkle Gassen getragen. Mit Erfolg, der ihm dann (wie stets) Recht gegeben hat, weswegen die Kirche schnell ein Einsehen hatte und Neri schon kurz nach dem Tod heilig sprach. Denn: Im Ziel war man sich ja einig, weswegen die Aufsicht Neris gezielte Tabuverletzung einer zwischen U und E, Kunst- und Volksmusik jonglierenden Musizierpraxis zu tolerieren bereit war. Il populo, soviel war der Kurie durchaus klar, ködert man nicht mit Palestrina!
Eher schon mit dem Palestrina-Schüler Giovanni Francesco Anerio, der auf Kardinal Ginnases Geheiß eine Musik verfertigte, die punktgenau auf die Vallicella-Klientel angepasst war: Konzertierende Dialoge, ein komplettes „Teatro armonico spirituale“. Dazu aufpolierter, nicht selten in (eigentlich verbotenen) Dreiklangsparallelen organisierter Laudengesang. Doch Parallelen hin – Verbote her: Hauptsache, so die Kirche, das Volk frisst es! „Seelenheil gegen Regeln“ textete dazu etwas kryptisch die Herne-Dramaturgie. Irgendwie schien sie doch etwas unterschätzt, die Dimension einer funktional-katholischen Gebrauchs- und (hier darf das Wort wohl einmal fallen:) Propagandamusik mit der ihr eigenen zeittypischen Sakralerotik: „Che far mi deggio / s’io piglio latte o sangue? O weh, was soll ich tun - / Milch oder Blut nehmen?“
So hebt in Hernes Kreuzkirche ein Spiel an mit einer längst verschwunden geglaubten Exotik. Vor allem immer dann, wenn Allessandro Quarta mit zwei Ensemblesängern nach vorn tritt, um im auswendigen Vortrag betörende Laudengesänge ins Kirchenschiff zu schicken. Ein Bild wie aus einem Pasolini-Film. Fehlender Armutslook, enge Gassen – leicht ergänzbar. Auf einmal werden die Decken zurückgeschlagen. Vereinzelt steht man auf, um das Terzett vorn am Altar mit den eigenen Italienassoziationen abzugleichen: Pittoresk!
Latte o sangue? Was darf man sagen? Schindluder, was da mit dem unaufgeklärtem Bewusstsein getrieben wird!? – Spielverderber! Oder darf man gegebenfalls daran erinnern, dass eine Heilige Römische Inquisition ungefähr zur nämlichen Zeit als Anerio seine geistliche Volksmusik mit aktiver Frauenbeteiligung schreibt, einem Wissenschaftler namens Galilei den Prozess macht, einen Philosophen namens Bruno auf dem Campo di Fiori verbrennt? Irgendwelche Zusammenhänge zwischen rabiater Gegenaufklärung und einer die Volksseele streichelnden Kunstpolitik? Man muss doch nicht an jedes (katholische) Tabu rühren! – Auch die Moderation dieses von WDR3 live übertragenen Konzerts hat sich schließlich daran gehalten, hat, ausgiebig, ans Gemüt appelliert, Geschichtsbewusstsein, tunlichst, außen vor gelassen. Der Papst zu Rom wird es nicht ungern (auch nicht) gehört haben.