Von Ian Wilson (*1964 Belfast) war hierzulande vor zehn Jahren in Flensburg die Oper „Hamelin“ zu hören und zu sehen. 2006 schrieb er Musik zu einem Text der 1962 in London geborenen und dort lebenden Schriftstellerin Lavinia Greenlaw. In „Minsk“ geht es um Anna und deren kulturelle Identität: Die Protagonistin emigrierte in jungen Jahren aus der zur Neige gehenden Sowjetunion nach London in der Hoffnung, dort ihr Glück zu finden.
Nach einem Viertel Jahrhundert sind die Erwartungen ernüchtert. Sie ist im Westen nicht heimisch geworden und wieder allein. In der Metro der fremden Großstadt entwickelt Anna ein Anlehnungsbedürfnis, das bei den reiferen Männern, die es trifft, auf wenig Gegenliebe stößt. Sie träumt von der Rückkehr in die Welt ihrer Jugend. Es bleibt offen, ob sie die Reise nach Weißrussland tatsächlich antritt und dort ihre Jugendliebe Fyodor trifft (einen inzwischen wohl gründlich verkrachten Literaten, der im Alkohol ertränkt, dass er nicht mehr „geliebter Dichter des Volkes“ werden kann). Es ergibt sich eine Erörterung über Rückkehr – real vollzogen oder in Gedanken durchgespielt –, warum und wie sie als 20-jährige Anoushka einst weglief.
Es geht in hohem Maß und intensiv um „innere Konflikte“ bezüglich neuer Heimat und der alten, die nicht aus dem Kopf und dem Herzen zu verbannen ist. Das Zweieinhalb-Personen-Stück verhandelt in kleiner Dimension an einem exemplarischen Fall die komplexe Thematik von Migration und Integration. Anders als neuere Hamlet-Adaptionen, Orest-Reaktivierungen oder Nietzsche-Szenen zielt es damit auf virulente Probleme der europäischen Gegenwart. Es geht um heutige Identitäten in einer Welt, die auf unkalkulierbare Weise in Bewegung geriet.
Das Kammerspiel wird in und vor einer von Nikolaus Porz entwickelten Box gezeigt, die an Gerätegehäuse der 60er oder 70er Jahre erinnert (Annas Jugend!). Dieser erhöht montierte Schaukasten bietet von vorn Einblicke in einen Wartesaal unbestimmter Provenienz, in dem zehn bleiche und in Nylon gepackte Statisten britische U-Bahn-Situation simulieren. Gleichsam im Trockenkurs. Um 180 Grad gedreht eröffnet sich eine leicht angegammelte Minsker Hinteransicht. Die Statisten kehren wieder in billig-bunter Ausstaffierung. Zum Straßenfest, das heißt zum Kampftrinken.
Der Regisseur Christian Marten-Molnár entwickelte die jeweiligen Situationen in prägnanter Personenführung. Die dramaturgische Grundidee des Stücks, dass eine Frau in den besten Jahren nicht nur die Diskussionen mit der ersten Liebe ihres Lebens noch einmal durchspielt, sondern auch mit sich selbst im Alter von etwa zwanzig Jahren, ist nicht nur pfiffig, sondern eben auch eine vorzügliche Spielvorlage. Ksenija Lukić, die zunächst stark verunsichert wirkende Anna mit der nicht mehr ganz frisch wirkenden Stimme, und die prall präsente Johanna Greulich als deren alter Ego Anoushka nutzen die Chancen des Gegen- und Miteinander weidlich. Auch der Dritte im Bunde setzt eine hohe Stimme ein: Niklas Romer (Fyodor) ist Counter. Diese Stimmlage scheint in keiner neuen britischen Oper, die up to date sein will, fehlen zu dürfen. Nicht bei Thomas Adès, nicht bei George Benjamin – und eben auch nicht bei Ian Wilson.
Der hat den Anspruch, „für jedes Stück eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln“. Das mag etwas hochtrabend klingen, meint aber: Dass er aus den immensen Möglichkeiten hinsichtlich des Materials und der Verarbeitungstechniken, die ihm dank seiner postmodernen Grundhaltung zu Gebote steht, für jede Arbeit individuelle Lösungen anstrebt. Eine solche ist nun für „Minsk“ gelungen – auf einem Umweg: „Minsk“ war ursprünglich für das Festival in Feldkirch bestimmt und u.a. mit Akkordeon, Balalaika, Klarinette und Trompete orchestriert (diese Instrumentenkombination sollte nicht zuletzt eine weißrussisch getönte ‚Folk’-Atmosphäre der Traumbilder unterstreichen). Inzwischen arbeitete Wilson die Partitur gezielt für Heilbronn um. Da dem Theater dort kein Symphonieorchester zu Verfügung steht, sondern nur das ortsansässige, aus Streichern bestehende Württembergische Kammerorchester (Leitung: Ruben Gazarian), galt es, dem Geigen-, Bratschen-, Cello- und Kontrabassklang durch weitergehende Aufteilung der vier Register neue Facetten abzugewinnen.
Tatsächlich entstand durch diese Mühewaltung etwas Eigentümliches: ein Sound, der bei allen Unterschieden bezüglich der zugrunde gelegten Materialien und der Differenzierung der Stimmführung eine neue Homogenität konstituierte. Das zu den Streichern hinzutretende Schlagwerk wird entsprechend diskret eingesetzt. Manche Partien wirken wie vom Neoklassizismus inspiriert, andere von locker eingewobener Minimal music und – charakteristisch hervorstechend – von osteuropäischer Folklore. Der Crossover-Sound bietet sich geradezu beispielhaft als Bühnenmusik an. Nicht zuletzt zur Evaluierung der trivialen Missverständnisse des Begehrens und der Abgrenzung in der Konfrontation der Geschlechter, zum Ausloten gespaltener Gefühle und zur Illuminierung des kulturellen Gaps zwischen Ost- und Westeuropa.