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Titelseite der nmz 2020/12-2021/01
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MischiMaschi

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Theo Geißler auf der Spur eines Wortes: Hybrid.
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Scherzfrage: Welches klassisch fundierte Fremdwort wird heutzutage in Kunst, Kultur und Politik noch häufiger verwendet als der durch viele erzählte Geschichten verschlissene Begriff „Narrativ“? Richtig. Hybrid. Als Substantiv und/oder als Adjektiv. Beides passt prima in die Zeit. Denn es beschreibt leicht wabbelig etwas Verbundenes, Vermischtes, auch durch Kreuzung Generiertes.

So orte ich in meinem Kalkspeicher als eine der ersten Begegnungen mit diesem zunächst altgriechisch, später auch lateinisch genutzten Phänomen unter anderem den Zuchterfolg einer zusätzlichen Rippe in unserem gern genossenen Spanferkel, ausgewachsen dann zum Hybridschwein eine echte Bereicherung der Grillsaison gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts. Etwas später entwickelte selbstloser Ingenieursgeist dann zum Beispiel den Hybridantrieb für Kraftfahrzeuge. Angeblich sei die Heirat zwischen Verbrennungs- und Elektromotor eine besonders umweltschonende, weil fossil-energiesparende Mobilmachung für unsere geliebten Autos. Leider in den meisten Fällen ein Irrglaube, wie jüngere Forschungsergebnisse beweisen.

Längst ist das Hybride auch schon in den vornehmlich (pseudo?-)wissenschaftlichen Beschreibungen bestimmter musikalischer Produktionsformen heimisch geworden: Von den unterschiedlichsten Kompositionen entstehen so – meist dank aufwändiger digitaler Verfremdungsmöglichkeiten – „Neu-Mischungen“, die trotz eines gewissen Mangels an eigener Schöpfer-Kraft nach Urheber- und GEMA-Anerkennung zwecks Tantiemen-Generierung gieren. Diese sogenannten hybriden „Remixe“ räumen inzwischen oft viel mehr Umsatzkohle ab als die alten Originale. Zehn Rippen mehr. Da wird gelängt, medien- und konsumenten-angepasst umgestrickt. Es müffelt „Kunst“ nach „Kopieren“.

Mittlerweile hat das Hybride, mit viel Lorbeerenvorschuss versehen, virenbedingt auch grundlegende allgemeine Bereiche menschlicher Kommunikation erobert. Beispielsweise als Mix von Präsenz- und digitalem Heim-Unterricht. Das hätte den Vorzug, ohne – wie vermutet – schlimmere Bildungslücken durch einen Lockdown zu produzieren, infektiöse Schüler*innen- oder Studierenden-Häufungen in Klassenzimmern, Hörsälen et cetera zu vermeiden. Man kann in Konventen aller Art (siehe Seite 24 dieser Ausgabe oder auch im beiliegenden Hochschulmagazin) den durch „Zoom“, „Skype“ oder „Teams“ erzeugten Hirn- und Augenstress, verbunden mit zunehmender Langeweile und Unaufmerksamkeit, angeblich zumindest reduzieren, indem man die Bildschirm-Briefmarken-Kontakte  mit persönlichen Treffen in entsprechend kleinen Gruppen – natürlich unter Einhaltung aktueller Abstands- und Hygieneregeln – durchmischt. Eben hybrid durchführt.

Es liegt keinesfalls im Sinn dieses Beitrages, solche Maßnahmen in der gegebenen Situation schlecht zu reden. Je mehr Kreativität und Fantasie für einen derartigen „Mix“ in solch einem Mix entstehen – umso besser. Allerdings zeichnen sich derzeit schon hybride Hoffnungen ab, praktischer Weise künftig die in der Not gezeugten Kommunikationskrücken zum Beispiel aus ökonomischen Gründen auch in einer postpandemischen Zeit an die Stelle der freien individuellen Bewegung und Begegnung zu loben. Fortschrittsgläubige Träumereien mit diesem Ziel lassen sich unter dem Rubrum „Nichts wird wieder wie es war“ immer häufiger finden. Veränderungen wird es geben – sicher auch fruchtbare, rettende. Aber die gnadenlose Digitalisierung, der auch nur teilweise Ersatz des persönlichen, des physischen Kontaktes durch hybride „Alter-Egos“, durch jedwede elektronische Avatare würde die derzeitigen Hybrid-Hilfsmittel in einen Pandora-Büchsen-Inhalt umformen. Wir gerieten in die Klauen einer ökonomisch-technokratischen Hybris, deren erste Zugriffe wir – auch wenn es paradox klingen mag – im irrationalen Procedere gewisser Querdenker ebenso ertragen wie die populismus-gesteuerte Zukunft in diversen Nachbar- und Übersee-Ländern. Kultur: Ende Gelände.

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