Jedes Jahr am Ende des Monats Januar wird das Geheimnis enthüllt, das die Musikwelt in Spannung hält. Also: der Ernst von Siemens Musikpreis 2006 geht an den Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim. Die mit 150.000 Euro dotierte Auszeichnung wird dem Künstler von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 12. Mai 2006 bei einem Festakt im Wiener Musikverein überreicht. Die Laudatio hält Pierre Boulez. Barenboim will 100.000 Euro für die Sanierung der von ihm als Musikchef geleiteten Berliner Staatsoper spenden, 50.000 gehen an die neue Barenboim Stiftung für Musikbildung.
Die Begründung der Jury für die Zuerkennung des Preises beschreibt vor allem den Lebens- und Karriereweg des 1942 in Buenos Aires geborenen Musikers: die rasche internationale Karriere als Pianist, die Dirigentenlaufbahn, die ihn in fast alle Konzertsäle der Welt führte, außerdem lange Zeit als Festspieldirigent nach Bayreuth. Barenboim ist noch Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra und Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Anerkannt wird auch sein Einsatz für die zeitgenössische Musik. Mit Boulez verbindet ihn Freundschaft. Dessen „Notations“ gehören für Barenboim zu den zentralen Werken der Musik überhaupt.
Die Jury hat aber nicht nur der Musiker Barenboim, sondern auch dessen politisches Engagement beeindruckt. In Sevilla gründete er 2004 die nach seinem Freund, dem verstorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said, benannte Stiftung zur Förderung junger Musiker aus Israel und den arabischen Ländern. Barenboims Friedensbemühungen im Nahen Osten basieren auf dem symbolisch zu begreifenden Gründungsakt für das „West-Eastern Divan Project“, bei dem junge Musiker aus Israel und Palästina gemeinsam in einem Orchester musizieren. In Jahr 2007 wird das Orchester als Residenz-Orchester bei den Salzburger Festspielen anwesend sein. Barenboim entfaltet bei seinem politischen Engagement notfalls auch Courage: als er bei der Verleihung des „Wolf Foundation Prize in the Arts“ an ihn, 2004 in Jerusalem, statt einer freundlichen Dankesrede die Gründungsurkunde Israels zitierte, gleichsam als Protest gegen den gegenwärtigen Zustand der Beziehungen zwischen Israel und Palästina, fand er bei der Festversammlung wenig Zustimmung, geschweige denn Begeisterung.
Auch für diese persönliche Haltung in schwierigen und problematischen politischen Situationen mag die Auszeichnung an Barenboim stehen. Kunst und Musik existieren nicht im gesellschaftlich luftleeren Raum, gleichsam als schwebendes schönes Mobile, allein dem Vergnügen der „Einwohner“ dienend. Der Siemens Musikpreis, nach seinen Stiftungsstatuten der „Förderung der Kunst, insbesondere der Heran-und Fortbildung des künstlerischen Nachwuchses auf dem Gebiet der Musik“ verpflichtet, hat, vielleicht sogar ungewollt, im Verlauf seiner Existenz seit 1974 (erstmals an Benjamin Britten) auch eine politische Dimension hinzugewonnen. Diese Dimension wächst gegenwärtig überproportional schnell. Dabei geht es in erster Linie gar nicht einmal um die ständig sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen, unter denen die Kultur in unserem Land arbeiten muß. Die ständigen Negativ-Diskussionen über die Förderung von Kunst und Kultur, die Klagen über uneinsichtige Politiker, die oft um geringer Einsparungen willen verdienstvolle künstlerische Aktivitäten zur Disposition stellen, die häufig schleimigen Anbiederungen an sogenannte Sponsoren, die ihre Kulturgaben vor allem zur eigenen Imagepflege „opfern“ – das alles sind vordergründig Erscheinungen, die die „Kultur“ bedrängen und beschädigen. Viel bedrohlicher aber ist das schwindende Bewußtsein bei vielen Menschen, auch und gerade bei jüngeren, was das überhaupt ist: Kultur, Kunst, Musik in ihrer E-Form, Literatur. Das schlimmste dabei ist, dass diese regressiven Tendenzen inzwischen sogar die Künstler selbst, die „Macher“, die Regisseure, auch Musiker erfasst haben.
Wenn man gerade in diesen Tagen liest, wie die Filmregisseurin Doris Dörrie, die irgendwann einmal in den letzten Jahren die Oper für sich entdeckt hat, die Zukunft der Oper begreift, dann packt einen das gelinde Grausen. Kunst, Musik, Oper lässt sich nicht dadurch retten, das man alles aufs niedrigste TV-Niveau herunter arrangiert, nur damit es die Spaßjugend versteht und anzieht. Wer solche Zurichtungen von Werken besichtigt, weiß danach wirklich nichts von dem, was im Werk verhandelt wird. Das hat mit konservativer Rückständigkeit nichts zu tun, nur mit dem Beharren auf den Resten einer möglichen Intelligenz, die den Dörries & Co. offensichtlich abhanden gekommen ist. Wer aber engagiert immer wieder solche künstlerischen Windbeutel? Der Opportunismus mancher Intendanten ist zumindest ebenso indiskutabel. Was bedeutet das alles für den Siemens-Preis? Sehr viel. Mit den Auszeichnungen an wichtige Persönlichkeiten, an vielversprechende junge Künstler und verdienstvolle Institutionen und Aktivitäten setzt der Siemens-Musikpreis mit seinem Hauptpreis und den vielen Förderpreisen einen markanten Gegenakzent zu den herrschenden Tendenzen. Die Liste der Förderpreise in Höhe von fast 1,4 Millionen Euro liest sich wie ein Gotha der aktuellen Musik. Die drei Komponistenpreise erhalten diesmal die Griechin Athanasia Tzanou und die beiden Deutschen Jens Joneleit und Alexander Muno. Nie gehört? Eben! Wer nur daran denkt, wie er Mozart verpoppen kann, weiß nicht, dass sich in den Werken der Kunst auch eine Geschichte des Geistes abbildet. Barenboim, Tzanou, Joneleit, Muno und die Jury der Siemensstiftung wissen das. Und auch manche andere, die noch nicht den Musikpreis erhalten haben, ihn gleichwohl längst verdient hätten, wie ein Michael Gielen oder eine Yvonne Loriod, um nur diese beiden Namen zu nennen, als kleine Anregung für die Zukunft.