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Die Improvisatoren von Echtzeitmusik beim Still-Leben A 40 in der Nähe von Bochum. Foto: Stefan Pieper
Die Improvisatoren von Echtzeitmusik beim Still-Leben A 40 in der Nähe von Bochum. Foto: Stefan Pieper
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Mit Unprojekten eine Autobahn entschleunigen: „Echtzeitmusik“ auf dem Ruhrschnellweg

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Gezeigt wird „auf der längsten Tafel der Welt“, der für einen langen Sonntag abgesperrten Ruhrgebiets-Autobahn 40 vor allem all das, womit sich die verschiedenen Menschen – gerne auch an Sonntagnachmittagen – beschäftigen. Bodenständig geht es zu. Diskursfördernde Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen erfolgen eher punktuell. Manche gute Ideen verlaufen im Sande. Etwa die nicht zustande gekommene Klanginstallation, mit der ein Anwohner auf die extrem lärmgeplagten Lebensbedingungen am direkten Rand der Autobahn hinweisen wollte.

Und doch strebt auf der autofreien Autobahn, mit der die Metropolen-Region für einen Tag eine ausgedehnte Flanier-Piazza bekommen hat, so manches Projekt nach Konfrontation. Beim Passieren von Kilometer 6,3 kurz vor der Anschlussstelle Bochum-Hamme stellt sich ein halbes Dutzend improvisierender Musikanten den Vorbeiströmenden in den Weg, um diesen auf Saxofonen, Klarinetten, Akkordeon und Vuvuzuela ein Kaleidoskop aus geräuschhaften Klangflächen und wilden freitonalen Ausbrüchen entgegen zu schleudern. Neue Musik, die aus ihren hermetischen Katakomben heraustritt, um in „Echtzeit“ ungewohnte soziale Zusammenhänge zu erobern? Viele sind verwundert und kommen ins diskutieren, zücken in touristenhafter Manier die Fotoapparate, hören aber auch zu. „Ob die sich gerade erste einspielen?“ gehört zu den unvermeidlichen Randbemerkungen. Die spielerische Truppe formiert sich zu jeder vollen Stunde neu – phasenweise stoßen auch neue Mitspieler adhoc dazu, einem vorherigen Internet-Aufruf für die Aktion folgend.

„So funktioniert eben Echtzeit-Musik“, betont der „Anführer“ des schrägen Ensembles. Saxofonist Claudius Reimann lebt von kleinauf in Marl, arbeitet heute hauptberuflich als Leiter einer Kindertagesstätte und lebt die Musik leidenschaftlich seit seinem dritten Lebensjahr. „Wir könnten hier natürlich den Blues spielen und noch ein weiteres der zahllosen Konsens-Dinger hier abziehen, aber das wäre mir zu langweilig!“ betont er. Neben profundem künstlerischen Potenzial, weiß er um die Notwendigkeit, den von ihm angepackten Dingen einen Namen, ein Logo zu verleihen. Denn nur so kann man herausstechen in dieser – vor allem in Sachen kulturellem Angebot - weitläufigen Region.

Klarinettistin Katharina Bohlen kommt auch an den Tisch. Die Bochumerin geht ansonsten einem künstlerischen und pädagogischen Studium an der Folkwang-Hochschule nach. Aber jenseits dieses „Alltags“ improvisiert sie aus Leidenschaft: „Wenn ich hier mit Gleichgesinnten in freiem Nehmen und Geben aufgehe, trete ich völlig aus meiner Alltagsrolle heraus. Das ist fast schon so etwas wie eine Traumebene.“

Die Akteure von „Echtzeitmusik“ (www.echtzeitmusik2010.de) treffen sich regelmäßig zu Sessions, wählen für Auftritte gern ungewöhnliche Orte wie Tropfsteinhöhlen im Sauerland oder manchmal auch eine von einem Kunstliebhaber zum Ausstellungsraum umfunktionierte Privatwohnung und an diesem Tag eben eine temporär stillgelegte Autobahn. Natürlich locken auch immer wieder die zahllosen umfunktionierten Industrie-Bauten. Fast alles wird im Netz verabredet, das sorgt für Flexibilität. Leider haben für diesen sonnig-entschleunigten Tag auf der Autobahn einige Streicher abgesagt – angesichts der Sonnenhitze fürchten sie wohl zu Recht um ihre kostbaren Instrumente.

Viele Begegnungen zwischen den „Echtzeitmusikern“ kamen übrigens im nahegelegenen „Unperfekthaus“ zustande, einem privat betriebenen Kulturzentrum in der Essener City. Hier kann jeder mit jedem das tun, was er gerne anstellen will, künstlerisch betrachtet. Gegen eine geringe Gebühr stehen Räumlichkeiten, ja sogar Materialen, Equipment, Bühnen und Getränke zur Verfügung. (www.unperfekthaus.de)

Ruhr 2010 rückt kulturelles Schaffen in mannigfaltigen Formaten, aber doch selektiv ins Rampenlicht. Das A 40-Projekt hat hingegen den Mikrokosmus unterhalb der Hochglanz-Oberflächen auf den Präsentierteller gehoben.

„Echtzeitmusik“ gab es schon vorm Kulturhauptstadtjahr. Seit Sommer 2010 komplettiert es die bemerkenswerte Kollektion jener „Unprojekte“, die sich zwar für Ruhr 2010 beworben hatten, aber dann doch irgendwie nicht in den gewünschten Mix hineinpassten. Dass diese dennoch öffentlich gefragt sind, beweist eine große Voting-Aktion im Netz, bei der unlängst die kreativsten Spielarten von selbstgemachtem Kulturleben ausgezeichnet wurden.
Und schon haben die Initiatoren in selbstausbeuterischer Eigenleistung ein Unprojekte-Festival arrangiert, das vom 14.08. bis 12.09. in Essen steigt. (www.unprojekte2010.de )

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