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Das Ökosystem gerät an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Foto: Martin Hufner
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Monteverdi und der Klimawandel

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Wie die Musik auf eine globale Herausforderung reagieren könnte · Von Bernhard König
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„Ich bin die Musik, die mit süßen Klängen jedes erregte Herz zu besänftigen weiß und – bald zu edlem Zorn, bald zur Liebe – die eisigsten Gemüter entflammen kann“. Es ist La Musica selbst, die mit diesen Worten eine Oper eröffnet, die in meinen Ohren zum Schönsten zählt, was die Menschheit hervorgebracht hat. Wir können den „Orfeo“ von Claudio Monteverdi hören, wann immer wir wollen – ein kleines Wunder. 400 Jahren hat diese Musik überdauert; fast die Hälfte davon schlummerte sie völlig unbeachtet, ungespielt und ungehört in Bibliotheken und Archiven. Heute ist sie in dutzenden Interpretationen abrufbar: so frisch und lebendig, als wäre sie eben erst entstanden, und zugleich so fremd und fern wie die Vergangenheit, aus der sie stammt. Wird man diese 400 Jahre alte Musik auch in 40 Jahren noch hören, genießen und verstehen? Wir alle – Musikerinnen und Musiker, Vermittlerinnen und Veranstalter – tun viel dafür, dass dies so sei. Viel Geld, Anstrengung und Kreativität haben wir in das Ziel investiert, den Nachwuchs an die großen Schätze der Musikgeschichte heranzuführen.

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Anfang des Jahres nun begann unser „Publikum von morgen“ plötzlich Freitag für Freitag während der Schulzeit auf die Straße zu gehen. Konfrontierte uns Ältere damit, die Verantwortlichen von heute und gestern zu sein und forderte lautstark das Recht auf eine eigene Zukunft ein: Hört auf die Wissenschaft! Setzt um, worauf sich 195 Länder im Pariser Klimaschutzabkommen geeinigt haben! Haltet das 1,5-Grad-Ziel ein! Uns Musiker erinnern sie mit ihrem Protest unter anderem auch daran, dass selbst die schönste und zeitloseste Musik, um zu überdauern, Menschen benötigt, die sie in Ehren halten, bewahren und weitergeben. Und dass diese Menschen wiederum bewohnbaren Grund und Boden, sauberes Wasser und eine schützende Atmosphäre brauchen. Einen Planeten also, der wirtlich, friedlich und resilient genug ist, um darauf etwas so Schönes und Sinnloses tun zu können, wie (beispielsweise) 400 Jahre alte Musik zu hören und aufzuführen. Dafür aber, dass auch dies in 40 Jahren noch so sei, taten die meisten von uns, während wir uns um Monteverdi und Mozart, Schubert und Stockhausen bemühten, bei weitem nicht genug. Und deshalb mahnt das Publikum von morgen uns jetzt Freitag für Freitag, endlich unsere verdammte Pflicht zu tun und zu handeln. Damit es (zum Beispiel) auch in Zukunft noch die freie Wahl hat, die Musik der Vergangenheit und kommenden Gegenwart zu lieben oder zu hassen, desinteressiert links liegen zu lassen oder den eigenen Kindern nahezubringen.

Für mich persönlich bedeutete die erste Begegnung mit „Fridays for Future“ ein jähes Aufwachen. Dem, was ich dort hörte, fühlte ich mich zutiefst verbunden – und wusste doch: Ich habe nicht das Recht, mitzudemonstrieren. Denn ich bin selber einer von denen, die 30 Jahre lang wissentlich auf Kosten ihrer Kinder gelebt haben. Bereits mit 16, 17 Jahren stieß mich ein engagierter Lehrer auf die Themen „Ökologie“, „globale Umweltzerstörung“ und „Verantwortungsethik“. Ein paar Jahre lang versuchte ich, meine Lebensführung konsequent danach auszurichten. Wenige Jahre später war von diesem Vorsatz kaum noch etwas übrig. Auch wenn ich seither nie daran gezweifelt habe, dass die drohende ökologische Verwüstung unseres Planeten das wichtigste aller wichtigen Themen sei: Aktiv dagegen getan habe ich wenig. Stattdessen habe ich mir das klimaschädliche Lebenskonzept eines Vielreisenden angeeignet [1].

Als beschämter Zuwenigtäter möchte ich mich nicht mit Spruchbändern auf die Straße stellen. Aber ich kann dem unmissverständlichen Appell der Demonstrierenden folgen, der da lautet: Hört auf die Wissenschaft! Verbraucht weniger CO2! Und tut alles in eurer Macht stehende, um auch andere zur Reduzierung ihres CO2-Ausstoßes zu bewegen. Stellt eure Konsumgewohnheiten um. Erhöht den Druck auf die Politik. Sorgt dafür, dass das Thema im öffentlichen Bewusstsein bleibt – überall, im Beruf und Privatleben, ein jeder und eine jede in ihrem Wirkungsfeld. Was in meinem persönlichen Fall dann ja wohl hieße: In der Musik.

Die Zweifel folgen auf dem Fuß. Wer Autos konstruiert oder eine Supermarktkette leitet, mag vielleicht einen relevanten Beitrag leisten können. Aber in der Musik? Komponieren gegen die Klimakatastrophe? Klavierspielen für den Kohleausstieg? Würde ich mich damit nicht einfach bloß lächerlich machen? Wäre das nicht ein reichlich billiger Versuch, die Krise zu nutzen, um das eigene Tun zu legitimieren und zu künstlicher Relevanz aufzublasen? Oder, im besten Fall: Ein Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht?

Den Klimawandel hörbar machen

Der Pianist Ludovico Einaudi und der südindische Sänger T.M.Krishna haben es versucht und ihre Musik auf dem Weg der visuellen Inszenierung in den Dienst konkreter Umweltprojekte gestellt. Ein Greenpeace-Video zeigt Einaudi mitsamt Steinway-Flügel auf einer schwimmenden Plattform in arktischen Gewässern. Im Hintergrund: Schmelzende Eisberge, deren Zerfall er mit einer Elegy for the Arctic begleitet. In T.M.Krishnas Video „Chennai Poromboke Paadal“ spielen die Musiker mit Mundschutz in einer verwüsteten und versmogten Industrielandschaft, um eine Petition gegen die Zerstörung eines ökologisch bedeutsamen Feuchtgebietes zu unterstützen. Bei aller Aktualität ist die Grundidee der beiden Videos uralt: mit Musik die Herzen bewegen. So wie schon Orpheus es einst tat. Wenn Vernunft nicht greift, wenn alle Warnungen und Mahnungen der Wissenschaft verpuffen, vielleicht – so die zugrunde liegende Hoffnung – vermag dann La Musica unsere „eisigen Gemüter“ für den Schutz der Umwelt zu entflammen.

Es gibt und gab rund um den Erdball vielerlei Versuche, die emotionalisierende Wirkung von Musik in den Dienst des überfälligen Bewusstseinswandels zu stellen – von den Protestgesängen der Marshall-Insulaner, deren Heimat schon jetzt vom Untergang durch Überflutung bedroht ist [Vgl. die SRF2-Sendung „Kontext“ vom 29.1.2018], über Greta Thunbergs Zusammenarbeit mit der Band The 1975 bis hin zum großen „Live Earth“-Konzertmarathon von 2007. Doch gerade auf den Spielplänen klassischer Konzert- und Opernhäuser tauchte das Thema bislang nur selten auf. In den achtziger Jahren schien es vorübergehend so, als habe die traditionelle Gattung des Oratoriums in der globalen Umweltzerstörung ein neues Sujet gefunden. Mauricio Kagel zeichnete mit „Die Erschöpfung der Welt“ eine makabere Dystopie; Gerhard Müller-Hornbach stimmte mit „Wir sind ein Teil der Erde“ einen monumentalen Schamanengesang aus „Klang, Licht und Bewegung“ an. Danach wurde es auffällig still. [2] Vermag La Musica womöglich gerade hier, im klassischen Konzertsaal, besonders wenig auszurichten – eingehegt in eine Rezeptionsform des kontemplativen Konsumierens und eingebettet in einen ästhetischen Diskurs, der allzu deutliche politische Botschaften mit Skepsis betrachtet?

Es scheint mir jedenfalls kein Zufall zu sein, dass die Mehrzahl der Ansätze zu einem „Bewusstseinswandel mit musikalischen Mitteln“ an Formate und Rezeptionsformen außerhalb des Konzertbetriebs geknüpft ist. So ist in den letzten Jahren ein neues Genre entstanden, das Musik in den Dienst einer klanglichen Veranschaulichung und Versinnlichung abstrakter Messdaten stellt. Wenn der Schweizer Klangkünstler Marcus Maeder den Trockenstress hitzebelasteter Bäume hörbar macht, sein dänischer Kollege Jacob Kirkegaard Tonaufnahmen von verschiedenen Stadien der polaren Eisschmelze zu einer Klanginstallation fügt oder ein Team von Geographie- und Musikstudenten der University of Minnesota die Erderwärmung verschiedener Klimazonen in einen vierstimmigen Streichersatz überträgt, dann werden Veränderungsprozesse und Naturphänomene, die unserer Wahrnehmung normalerweise unzugänglich bleiben, auf auditivem Weg sinnlich erfassbar gemacht. In den USA haben sich mehrere interdisziplinäre Teams unter Namen wie „The ClimateMusic Project“ oder „Climate Symphonie“ zusammengetan, um klimatische Entwicklungen und ihre Folgeschäden mit musikalischen Mitteln hörbar zu machen. Zeitspannen von vielen Jahrzehnten werden auf erfassbare Dauern von wenigen Minuten projiziert; naturwissenschaftliche Messdaten und Prognosen in unterschiedliche musikalische Parameter übersetzt. Anders als bei der vertrauten graphischen Visualisierung erhalten die Messdaten durch diese Form der Sonifikation eine zusätzliche suggestive Wirkungskomponente. Die norwegische Komponistin und Sängerin Maja S.K. Ratkje geht noch einen Schritt weiter und nutzt das Prinzip der Sonifikation als Ausgangspunkt für die Aktivierung und Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen, indem sie diese mit datengestützten graphischen Partituren dazu animiert, sich selber künstlerisch und musikalisch mit den Flugrouten von Vögeln oder dem steigenden Wasserpegel an der norwegischen Küste auseinanderzusetzen.

Eine weitere Strategie besteht darin, sich nicht auf dem Weg der innermusikalisch-programmatischen Bezugnahme zu positionieren, sondern die Auseinandersetzung mit der Klima- und Umweltthematik auf die Ebene einer funktionalen Veranstaltungsdramaturgie zu verlagern. So veranstaltet beispielsweise die Berliner Staatskapelle seit 2011 regelmäßige „Klimakonzerte“, die der Akquise von Spenden für die Projekte einer eigens gegründeten Umweltstiftung dienen. 2017 erfand die Pianistin und Komponistin Lola Perrin unter dem Label „ClimateKeys“ ein neues Veranstaltungsformat, in dem Klaviermusik als Rahmung für einen klimatologischen Vortrag und ein anschließendes Gespräch zum Einsatz kommt.

Die Aufzählung der Aktivitäten und Konzepte ließe sich noch lange fortsetzen. Doch sie führt meines Erachtens in die falsche Richtung. All die genannten Ansätze sind wichtig und wertvoll. Aber es geht bei diesem Thema schon längst nicht mehr um die Projekte und Initiativen einzelner Musiker und Komponistinnen. Es geht nicht um unsere punktuellen Antworten und Ideen, sondern darum, dass wir anfangen, die richtigen Fragen zu stellen. Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut. Aber es scheint mir an der Zeit zu sein, dass wir freiwillig auf ein Stück Gestaltungsautonomie verzichten und uns stattdessen auf eine andere Grundvoraussetzung unseres Berufes besinnen: Wir alle sind von Berufs wegen Fachleute fürs genaue Hinhorchen. Zuzuhören und sensibel zu reagieren ist eine unserer Kernkompetenzen. Tun wir also, wozu die ClimateKeys-Veranstaltungen einladen und Fridays for Future uns auffordert: Hören wir genau hin. Auf das nämlich, was die Wissenschaft sagt. Und reagieren wir, wie es sich für Musiker*innen gehört: indem wir sensibel überprüfen, ob unsere Begleitstimme zum Gegenwartsgeschehen noch sauber intoniert ist.

Auf die Wissenschaft hören

Wann immer wir eine Arie anstimmen, zu einer Sinfonie ansetzen, eine Tonfolge in die Tastatur tippen; wann immer wir einem Vorschulkind die Geige ans Kinn setzen oder die Ohren für Monteverdi und Ligeti öffnen, lassen wir vergangene Schönheit lebendig werden und tragen sie in die Zukunft, indem wir sie unmittelbar physisch zum Klingen bringen, innovativ fortschreiben, kritisch negieren, sampeln, remixen oder pädagogisch vermitteln. Kaum ein anderer Berufsstand steht so bewusst wie wir in einer Abfolge der Generationen. Dieses Wertefundament unseres Berufs aber – wertvolle Traditionen fortzuschreiben, Schönheit weiterzugeben – wird durch die Klimakrise von Grund auf in Frage gestellt.

Die Wissenschaft versucht seit Jahrzehnten vergeblich darauf hinzuweisen, dass die Menschheit gleich mehrere hochriskante Wetten gegen die Naturgesetze eingegangen ist, mit denen sie die Entwicklungs- und Entfaltungschancen ihrer eigenen Nachkommenschaft massiv aufs Spiel setzt. Unser Dasein als denkende, gestaltende und musizierende Wesen verdanken wir einem kosmischen Zufall: Wir wurden in eine „höchst gastfreundliche Epoche“ (Kate Raworth) [3] der Erdgeschichte hineingeboren – in Bedingungen, die kein anderer uns bekannter Planet aufweist. Aber binnen weniger Jahrzehnte haben sich der Energie-, Material- und Flächenverbrauch sowie der Ausstoß an Müll, umweltbelastenden Chemikalien und Treibhausgasen durch ein komplexes Zusammenwirken von Wirtschaftswachstum, Bevölkerungswachstum und technischem Fortschritt in einem Maße beschleunigt, an das sich die fein austarierten planetaren Ökosystemfunktionen nicht mehr anzupassen vermögen [4]. Menschliche Zivilisation beruht auf einem stabilen Gefüge verschiedener natürlicher Parameter. Gegenwärtig rücken gleich mehrere dieser Parameter jenen Belastbarkeitsgrenzen gefährlich nahe, an denen ein Umkippen in selbsttätige, nicht mehr aufhaltbare Kettenreaktionen droht.

In Bezug auf die Erderwärmung stimmen alle seriösen Wissenschafter*innen darin überein, dass dieser Kipppunkt bei einer Fortsetzung oder gar Steigerung der Treibhausgase-Emissionen bereits in wenigen Jahrzehnten erreicht sein wird – nach jüngsten Meldungen möglicherweise auch schon früher [5]. Das vollständige Auftauen des Polareises und der Permafrostböden und der ökologische Kollaps der Regenwälder (vgl. https://www.globalforestwatch.org) werden zu Veränderungen führen, die sich durch geordnete Umsiedlungen oder zivilisatorische Anpassungsleistungen nicht mehr werden bewältigen lassen: „Steigende Meeresspiegel, die ganze Inselregionen und Küstenzonen versenken, regelmäßige Extremwetterereignisse oder steigende Hitze, die ganze Regionen unbewohnbar machen“ (Uwe Schneidewind) [6] und, parallel dazu, ein Verlust der Biodiversität in einem Tempo, das es in der Erdgeschichte bisher noch nicht gegeben hat (vgl. http://www.livingplanetindex.org/home/index und https://www.helmholtz.de/fileadmin/user_upload/IPBES-Factsheet.pdf).

Der kategorische Imperativ unserer Gegenwart lautet deshalb schon längst nicht mehr: Vermeide hier und da ein bisschen CO2 und Plastikmüll. Sondern: Mach es zur obersten Maxime deines Handelns, dass es aktiv dazu beiträgt, den Ressourcenverbrauch auf allen Ebenen radikal zu reduzieren. Das Gros der Klimatologen, Ökologinnen sowie der zukunftsorientierten Philosophen, Städteplanerinnen und „Post-Wachstums-Ökonomen“ ist sich einig: Um die Bewohnbarkeit unseres Planeten zu bewahren, braucht es in den nächsten Jahren ein grundlegendes Umsteuern in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen: In Ökonomie und Städteplanung, Verkehr und Landwirtschaft, großer Weltpolitik und individuelle „Ökoroutine“ (Michael Kopatz) [7].

Und in der Musik? Gilt der Appell der Wissenschaft auch für uns? Und wenn ja – was können wir zu diesem überlebensnotwendigen Transformationsprozess beisteuern? Wichtig erscheint mir vor allem, überhaupt mit dem Nachdenken über diese Frage zu beginnen. Wenn ich nachfolgend einige Vorschläge und Thesen skizziere, dann möchte ich diese vor allem als Einladung zum Austausch und zum eigenen Gedankenspiel verstanden wissen. Ich selber glaube: Ja, wir können etwas beisteuern. Es braucht dafür keine neuen Konzertformate oder Kompositionen. Was es braucht, ist ein neues Wertefundament.

Musik als Teil der expansiven Moderne

Claudio Monteverdi war dazu verurteilt, ein weitgehend CO2-neutrales Leben zu führen. Für seinen erbärmlichen Lebensstandard und seine berufliche Situation kann man ihn aus heutiger Sicht nur bedauern – niemand will dorthin zurück. Seine Noten musste er bei Kerzenlicht mit der Hand schreiben; seine Reisen mit der Postkutsche zurücklegen. In seinen Briefen klagt er mal über schlechte Bezahlung, mal über die notorische Geringschätzung bei Hofe. Über eine zu geringe überregionale Präsenz und Ausstrahlung beklagt er sich hingegen nie, obwohl sich fast sein gesamtes Leben in Cremona, Mantua und Venedig abgespielt hat: Ein Aktionsradius von gerade einmal hundert Kilometern. Über die beiden Reisen, die ihn im Gefolge des Herzogs von Mantua nach Ungarn und Flandern führten, dürfte er sich nicht sonderlich gefreut haben. Sie waren strapaziöse und gefährliche Dienstpflichten eines höfischen Bediensteten, bei denen es nicht um den eigenen Ruhm ging, sondern darum, dem fürstlichen Herrn auch auf dem Kriegsfeld oder in diplomatischer Mission musikalisch zu Diensten zu sein. Ansonsten war es eine Selbstverständlichkeit, dass ein Musiker an einem Ort wirkte. Monteverdis Wechsel von Mantua nach Venedig im Alter von 46 Jahren war eine ungewöhnliche und einschneidende biographische Zäsur.

In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten nahm die Reisetätigkeit von Instrumentalvirtuosen und Komponisten kontinuierlich zu – von vereinzelten Studien- und Berufsreisenden wie Händel über gesamteuropäische Tourneemusiker wie Mozart und Liszt bis hin zu einem interkontinentalen Berufspendler wie Antonín Dvořák und den zahllosen musizierenden und komponierenden Kosmopoliten des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit dem Reise- und Aktionsradius verschob sich auch ein Wertesystem. Die Reputation, Ausstrahlung oder Popularität eines Musikers (und, stark zeitverschoben, auch einer Musikerin) wurden in wachsendem Maße mit überregionaler oder gar internationaler Präsenz gleichgesetzt. Heute kann man in den großen Musikmetropolen im Wochentakt Musik aus allen Regionen der Welt hören. Große Konzert- und Opernhäuser wollen Tag um Tag mit zweitausend und mehr Zuhörerinnen und Zuhörern gefüllt werden und müssen deshalb auf ständige Abwechslung, internationale Namen und hohe Publikumsmobilität setzen. So hat die Elbphilharmonie 2018 für einen Zuwachs von 14,3 Prozent bei den US-amerikanischen Hamburg-Touristen gesorgt (vgl. Hamburger Abendblatt vom 21.2.2018) und wirbt damit, dass sich in der aktuellen Spielzeit rund 40 internationale Spitzenorchester „die Klinke in die Hand geben“ (vgl. die Saisonvorschau).

Deutschlands weltweit einzigartige Dichte an Chören und Orchestern, groß dimensionierten Opern- und Konzerthäusern verdankt sich einer längst vergangenen Zeit, die einerseits von Kleinstaaterei geprägt war und in der andererseits, damit Musik überhaupt erklingen konnte, Musiker physisch anwesend sein mussten. Ein wunderbares, überaus kostbares Relikt – aber auch ein potentiell klimaschädliches, wenn immer mehr dieser großen Klangkörper und Häuser „international“ sein wollen, immer mehr Solisten, Ensembles, Chöre und Orchester globale Dauerpendler werden und auch das Publikum zu immer mehr Mobilität angestiftet wird. Es geht mir nicht darum, einzelne Akteure des Musikbetriebs als Klimasünder zu verurteilen – das wäre für einen Vielreisenden wie mich, der seit 25 Jahren Teil des beschriebenen Systems ist, mehr als scheinheilig. Was ich anhand der gesteigerten Mobilität unseres Berufsstandes exemplarisch zeigen möchte, ist, in welchem Maße die gegenwärtige Epoche der Musikgeschichte – so wie alle anderen Gesellschaftsbereiche auch – von dem geprägt ist, was Ökonomen und Sozialforscherinnen als „expansive Moderne“ oder „Große Beschleunigung“ bezeichnen: Eine „Zunahme der menschlichen Aktivität“ (Raworth, S. 62 f.) auf allen Ebenen, wie sie die Menschheitsgeschichte noch nie zuvor erlebt hat. Zwischen 1950 und 2010 hat sich das Welt-Brutto-Inlandsprodukt versiebenfacht, der Einsatz von Düngemitteln verzehnfacht (vgl. Raworth, S. 62 f.). Im 20. Jahrhundert wurde zehnmal mehr Energie verbraucht, als in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte [8] – und im 21. Jahrhundert geht diese Kurve weiter steil nach oben. Allein in den Jahren 2008-2010 wurde in China mehr Zement verbaut, als in den USA im gesamten 20. Jahrhundert (vgl. Schneidewind, S. 262)

Musik ist, was ihre enorm gewachsene Präsenz und Reichweite betrifft, ein Spiegel dieser globalen Entwicklung. Dies gilt für ihre industriellen, am Massenkonsum ausgerichteten Spielarten natürlich sehr viel mehr als für den Sektor der klassischen oder „Neuen“ Musik – doch auch hier ist die Zahl der internationalen Festivals, der Konzerttourneen, Ensembles, Projekte und – vor allem in Südostasien – der großen Konzerthäuser seit den 1980er Jahren exponentiell gestiegen (vgl. die – sicherlich unvollständigen, aber exemplarischen – Wikipedia-Listen: List of Concert Halls und Concert tours by year). Nimmt man zusätzlich noch die immer schnelleren technologischen und ästhetischen Innovationszyklen, die allumfassende und grenzenlose Verfügbarkeit, die kontinuierlich wachsenden Standards in Bezug auf Klangqualität, Akustik, Komfort, Öffentlichkeitsarbeit, digitale Abrufbarkeit oder mediale Zweitverwertungen sowie die wachsenden Energiekosten der Streamingdienste in den Blick (vgl. hierzu die Forschungsergebnisse von Matt Brannan und Kyle Devine zu den ökologischen und ökonomischen Kosten des Musikkonsums), dann fällt der Befund eindeutig aus: Nicht „Kunst“ oder „Unterhaltung“, nicht „Schönheit“ oder „Qualität“ bilden das gegenwärtig vorherrschende und stilübergreifend verbindende Wertefundament der Musik – sondern: Expansion.

Viele Klima- und Umweltforscher*innen betrachten die expansiven Tendenzen des gegenwärtigen menschlichen Wirkens und Wirtschaftens als stärkste Triebkraft für die physikalischen, biologischen und chemischen Veränderungen des Gesamtsystems Erde ( vgl. http://www.anthropocene.info/great-acceleration.php). Die Ökonomin Kate Raworth formuliert deshalb zwei grundlegende Minimalforderungen für Wirtschaftsunternehmen: Einen „angemessenen Beitrag (…) für den Übergang zur Nachhaltigkeit“ zu leisten (Raworth, S. 261) und „keinen Schaden anzurichten“ (Raworth, S. 262f.). Es gibt keinen triftigen Grund, warum diese Forderungen nicht auch für Kulturinstitutionen gelten sollten – doch bislang scheinen entsprechende Selbstverpflichtungen eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Zwar achten viele Konzerthäuser auf umweltfreundliche Klima- und Heizungsanlagen. Vereinzelt wird auch der eigene ökologische Fußabdruck durch Kompensationszahlungen ausgeglichen [9]. Radikalere Schritte aber, wie der des Konzerthauses und Sinfonieorchesters im schwedischen Helsingborg scheinen hierzulande derzeit noch recht selten zu sein. Dessen Intendant sorgte kürzlich für eine kontroverse Debatte, als er ankündigte, ab der Spielzeit 2020/21 nur noch Künstler*innen zu engagieren, die nicht mit dem Flugzeug anreisen [10].

Den bislang umfassendsten und fundiertesten Ansatz einer CO2-Reduzierung auf allen Ebenen des Kulturbetriebs verfolgt die britische NGO Julie's Bicycle. Bereits seit 2007 erforscht sie systematisch die Umweltbelastungen verschiedener Kultursparten und -formate, entwickelt branchenspezifische Nachhaltigkeitsstrategien, initiiert Modellprojekte und gibt frei zugängliche Leitfäden heraus, deren Bandbreite alle Aspekte der kulturellen Produktion und Rezeption umfasst und allein im Bereich der Musik von der Clubszene über sinfonische Orchester bis hin zur internationalen Stadion-Tournee reicht. „Wie kann es sein“, schallt es uns aus den freitäglichen Demos entgegen, „dass ihr seit Jahrzehnten wider besseres Wissen nichts getan habt?“. Julie's Bicycle führt mir vor Augen, was ich alles hätten tun können: Die eigene Reisetätigkeit einschränken. Den wachsenden Ressourcenverbrauch der eigenen Branche hinterfragen. Braucht wirklich jedes Konzert ein gedrucktes Hochglanz-Programmheft? Müssen wirklich ständig neue Räume als kulturelle Spielstätten erschlossen und mit professioneller Bühnentechnik ausgestattet werden? Julie's Bicycle verdeutlicht mir aber zugleich auch, warum ich mich all die Jahre nicht engagiert habe. Denn ich hatte, bevor ich anfing, für diesen Artikel zu recherchieren, noch nie von dieser Initiative gehört. Ich kannte die Namen unzähliger Komponistinnen und Komponisten, Musikerinnen und Dirigenten – nicht aber den Namen der weltweit führenden Initiative für Kultur und Klimaschutz. Weil das, was sie seit über einem Jahrzehnt tut, in meinen Kreisen bislang keine Rolle spielte. Es mag viele gute Gründe für ein radikales Umsteuern geben. Der Haken ist bloß: Als Musiker und Komponist hat man nichts davon. Mit Wärmedämmung und Mobilitätsreduzierung lässt sich im ästhetischen Diskurs kein Blumentopf gewinnen. Es lohnt sich nicht, für ein derartig peripheres Thema zentrale Werte zu opfern (überregionale Bekanntheit, künstlerische Autonomie, Völkerverständigung...) und gravierende Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen. Machen wir uns also nichts vor: Es gab in den zurückliegenden Jahrzehnten viele gute Gründe, nicht auf die Warnungen der Wissenschaft zu hören.

„Es lohnt sich nicht“? Längst hat sich dieses Gefühl zum planetarischen Problem ausgewachsen. Denn wir Kulturschaffenden stehen damit ja beileibe nicht alleine da. Es gibt diese „schlechten guten Gründe“ in allen Gesellschaftsbereichen und sie waren bislang stark genug, um alle Warnungen kollektiv zu verdrängen und alle Ansätze von politischer Initiative im Sande verlaufen zu lassen [11]. Jahrzehntelanger Stillstand, Aufschub und Verdrängung allerorten: in der Politik, wo entschiedeneres Handeln Wählerstimmen gekostet hätte; in der globalen Ökonomie, wo „weit über 90% der vorhandenen Öl-, Gas- und Kohlereserven“ nicht mehr genutzt werden dürften, wenn die Klimaziele eingehalten werden sollen – was einer „billionschweren Enteignung“ von Staaten und Unternehmen gleichkäme (Schneidewind, S. 129). Oder eben auch bei der individuellen Ernährung und beim privaten Mobilitätsverhaltens, wo „unsere gefestigten Annahmen, unsere Routinen und Alltagsgewohnheiten zur Disposition stehen“ (Kopatz, S. 63).

Viele Umwelt- und Sozialwissenschaftler*innen gehen deshalb mittlerweile davon aus, dass „technologische Innovationen alleine nicht reichen werden, um im 21. Jahrhundert ein gutes Leben für zehn Milliarden Menschen auf diesem Planeten innerhalb der planetarischen Grenzen zu ermöglichen“ (Schneidewind, S. 57) [12].. Die drohende Klimakatastrophe ist nicht nur ein politisches, ökologisches, ökonomisches und soziales Thema. Sie ist auch die größte kulturelle Herausforderung der Gegenwart. Und an dieser Stelle ließe sich für uns Musikerinnen und Musiker ja möglicherweise doch der eine oder andere Blumentopf gewinnen.

Eine neue Epoche einläuten

„Zukunft“, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer, sei mittlerweile für viele von uns zu etwas geworden, das „nicht passieren darf“. Unser Bestreben sei, den „Status quo, und wäre er noch so übel, zu retten vor dem Angriff einer dystopischen Zukunft“, die wir uns nur noch „als Chaos und Katastrophe vorstellen können“ [13]. Aber wie wäre es denn eigentlich, hält er dagegen, „wenn wir an Zukunftsvisionen nicht deshalb arbeiten, weil wir den Wald oder den Thunfisch oder das Klima retten wollen“, sondern weil wir uns „ein besseres Leben als das, was wir führen, allemal vorstellen und mit aller Kraft anstreben können“? (Welzer 2019, S. 48) Auch der Ökonomin Kate Raworth genügt es nicht, „keinen Schaden anzurichten“ (Raworth, S. 262). Sie ruft dazu auf, es als unsere Aufgabe zu betrachten, dass wir die Welt „in einem besseren Zustand hinterlassen sollen, als wir sie vorgefunden haben“ (Raworth, S. 263). Dieser Umgestaltungsprozess werde nicht durch Lehrbuchtheorien vorangetrieben, sondern durch „die innovativen Experimente von Menschen, die diesen Wandel herbeiführen wollen“ (Raworth, S. 276). Und der Umweltwissenschaftler Michael Kopatz fordert eine „soziokulturelle Transformation“ aus vielen kleinen Ideen, die zusammengenommen „eine Art Lobbyismus für die zukünftigen Generationen“ gegen die „momentversessene Lobby der Trägheit“ ergeben (Kopatz, S. 383). Oder, wie Uwe Schneidewind vom Wuppertaler Klimainstitut es formuliert: eine „Zukunftskunst“, vorangetrieben durch „Pioniere des Wandels“, die den Übergang zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft mit „Lust auf Veränderung“ und „Interaktionsfreudigkeit“ vorantreiben (Schneidewind, S. 453ff.)

Uns Musiker*innen sollten derartige Gedanken nicht ganz unbekannt sein. Die Haltung einer experimentellen und exemplarischen Vorwegnahme von Zukunft, das beherzte und zugleich traditionsbewusste Aufbrechen von überkommenen Denkweisen und in ein ungesichertes, als besser und richtiger erkanntes Neues spielt in den Narrativen der europäischen Musik eine zentrale Rolle. Einer der ersten Komponisten, die sich selbstbewusst als eine Art musikalischer „Avantgarde“ positionierten, war Claudio Monteverdi. Ausgehend von einem klaren Wertekanon (in seinem Fall: dem der Antike und ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance), die ästhetischen Prämissen seiner Zeit teils behutsam erweiternd, teils überwindend, erfand er eine „neue Musik“ und eine neue Gattung namens „Oper“.

Musik ist seither ein gesellschaftlicher Bereich geblieben, in dem exemplarisch die Werte der jeweiligen Gegenwart verhandelt und in klingende Utopien übersetzt werden – von der bürgerlichen Aufklärung oder der 68er-Bewegung bis zur kulturellen Diversifizierung heutiger Gesellschaften. Mitunter materialisiert sich eine solche Utopie in sehr konkreten ökonomischen Strukturen, in neuen Institutionen und Berufsbildern, die dann ihrerseits einen Epochenwechsel einläuten oder verstärken. Als vielleicht wichtigster, aus kollektivem Veränderungswillen heraus aktiv vorangetriebener Paradigmenwechsel kann die Entstehung der bürgerlichen Konzertkultur vor 200 bis 250 Jahren gelten. Der Übergang von der spätantiken, theologisch fundierten Wirkungsästhetik zur neuzeitlichen Autonomieästhetik und von der musikalischen Ständegesellschaft zur hierarchiefreien „Musik für alle“ war ein wirkmächtiger Bestandteil des „Projektes Aufklärung“ und Ausdruck einer großen gesellschaftlichen Utopie: Der Gleichheit aller Bürger*innen, unabhängig von Stand, Religion und Geschlecht. Vordenker dieses gesellschaftlichen und ästhetischen Umbruchs waren nicht an erster Stelle die Komponisten und Musiker, sondern die Philosophen und Universalgelehrten der Aufklärung.

Unter den wissenschaftlichen und philosophischen Vordenker*innen von heute wird man kaum noch jemanden antreffen, der oder die nicht davon überzeugt ist, dass wir uns erneut inmitten einer grundlegenden Epochenwende befinden. Die Stichworte sind uns allen bekannt: Digitalisierung, Globalisierung, wachsende Migrationsbewegungen – und dies alles überwölbt von der Hoffnung, dass dieser Planet auch in Zukunft noch für unsere Spezies bewohnbar bleiben möge. In vielen Berufsbranchen und Gesellschaftsbereichen löst die schiere Größe dieses Umbruches ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit aus. Wir Musiker*innen hingegen sind es gewohnt, in Epochen zu denken. Es zählt zum Kern unseres Metiers, Vergangenes zu bewahren, zu vergegenwärtigen und zu transformieren. In jenen Bereichen des Musiklebens, die von Aktualität und Innovation leben, werden Epochenwechsel mitunter regelrecht herbeigesehnt und inszeniert. Diese Routine des Wandels könnte genau jetzt, wo globale Verantwortung die Menschheit dazu zwingt, einen Epochenwechsel nicht einfach nur geschehen zu lassen, sondern ihn aktiv zu gestalten, zu einer unerwartet wertvollen Ressource werden. Wenn es mit solcher Dringlichkeit Protagonist*innen braucht, die weder verdrängen und abwehren noch einseitig warnen, mahnen und sich in Askese üben, sondern positive Zukunftsvisionen entwickeln, mit guten Beispielen vorangehen und anderen auf diese Weise neue Perspektiven eröffnen [14] – warum tun wir es dann nicht?

Was es dafür bräuchte, wären musikalische Akteure, die an das Beispiel aus Helsingborg oder an die großartige Pionierarbeit von Julie's Bicycle anknüpfen, ohne diese Ansätze einseitig als Einschränkung zu definieren. Kleine und große Kulturinstitutionen, die sich als musikalische Zukunftslabore auf die Suche nach einem neuen, reduktiven Selbstverständnis begeben. Die Frage, die wir uns dabei stellen sollten, lautet nicht allein: Wie können wir unseren stofflichen Energie- und Ressourcenverbrauch reduzieren? Sondern: Wie können wir unsere schöpferischen Energien und Ressourcen besser einsetzen? Was können wir zur gesamtgesellschaftlichen Transformation beisteuern? Wie können wir mit unseren bescheidenen Mitteln helfen, von der gegenwärtigen wachstums- und konsumorientierten Ökonomie zu einer Ökonomie und Kultur des Selbermachens und Prosumierens, der Regionalität und der Gemeingüter zu gelangen? [15]

Diese entscheidenden Fragen der Zeit sind auch Fragen in unserem eigenen Interesse. Ich glaube nicht, dass die Musik eine gesellschaftlich relevante Stimme bleiben wird, wenn wir weiterhin versuchen, die expansiven Paradigmen des 19. und 20. Jahrhunderts fortzuschreiben. Es ist absehbar, dass die musikalischen Institutionen, Produktions- und Rezeptionsweisen, mit denen wir aufgewachsen sind, die uns geprägt und die wir maßgeblich mitgestaltet haben, das 21. Jahrhundert nicht überleben werden. Viele von ihnen sind (Stichwort „Digitalisierung“) schon jetzt ein Anachronismus [16]. Ein guter Zeitpunkt also, um einen neuen Zukunftsdiskurs zu eröffnen. Uns die Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit von Musik vor Augen zu führen und einen grundlegenden Epochen- und Paradigmenwechsel zu gestalten, der – „by design or by disaster“ [17] – früher oder später ohnehin stattfinden wird. Und ein guter Zeitpunkt, um das zu tun, wozu Fridays for Future uns auffordert: Auf die Wissenschaft zu hören. Und all die uns anvertrauten wunderbaren Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen, um uns in das gemeinsame, interdisziplinäre Projekt einer nachhaltigen Transformation unserer Gesellschaft einzubringen.

Die Kunst der Reduktion

Tief gerührt war die Adelsgesellschaft am Hof von Mantua, als erstmals die „Klage der Ariadne“ erklang – es sollen gar, so wird berichtet, Tränen geflossen sein. Die anrührende Uraufführung ist in die Musikgeschichte eingegangen und gilt als eine der Geburtsstunden der Oper. Claudio Monteverdi hatte etwas Erstaunliches getan. Obwohl seine Komposition den Höhepunkt einer pompösen, mehrtägigen Hochzeitsfeier bilden sollte, hatte er auf Superlative verzichtet. Statt noch größere Klangmassen aufzutürmen, noch mehr Stimmen in kontrapunktischen Wettstreit treten zu lassen, hatte er das genaue Gegenteil getan und seine Musik zu äußerster Schlichtheit verknappt: Zwei Linien, Gesang und Bassstimme: Mehr brauchte er nicht, um alles Wichtige zu sagen. Monteverdis Seconda pratica war eine Kunst der Reduktion, die nicht Verzicht bedeutete, sondern Konzentration auf das Wesentliche und die gerade dadurch eine Fülle an neuen Spielräumen eröffnete.

Das „Wesentliche“ von damals waren die menschlichen Affekte – Trauer, Reue, Wut, Hoffnung – die sich durch eine einzelne Singstimme sehr viel besser darstellen ließen, als durch komplexe polyphone Strukturen. Was aber könnte heute die Zielrichtung einer solchen „Kunst der Reduktion“ sein? Das „Wesentliche“ von heute sind, global gesehen, die Rechte und Bedürfnisse, das Glücksstreben und die Entfaltungsmöglichkeiten von demnächst zehn Milliarden Menschen auf einem Planeten, dem die Luft ausgeht. Musik wird angesichts dieser gewaltigen Herausforderung zu einem lächerlich winzigen Nebenschauplatz – ihre Rolle ist so marginal, dass sie in den Szenarios der Klima- und Sozialforscher*innen nicht einmal am Rande erwähnt wird. Dennoch findet man zwischen den Zeilen dieser Szenarios einen verborgenen Hinweis darauf, an welcher Stelle wir Musiker*innen uns möglicherweise für die notwendige Transformation von der „expansiven Moderne“ des 20. Jahrhunderts in eine zukunftsfähige „reduktive Moderne“ (Sommer/Welzer, S. 45ff.) nützlich machen können. Das Überraschende an diesem versteckten Appell: Wir tun es bereits. Wir sind längst ein aktiver Teil dieses Transformationsprozesses. Wir haben es bisher nur noch nicht bemerkt.

Das 21. Jahrhundert gilt als „Jahrhundert der Städte“ [18]. Seit 2007 leben erstmals in der menschlichen Siedlungsgeschichte „mehr Menschen in Städten als im ländlichen Raum“ (WBGU 2016, S. 133); 2050 werden es rund achtzig Prozent der Menschheit sein. Große Städte sind seit jeher Brutstätten der Veränderung. Sie sind gegenwärtig die größten Treiber und zugleich wesentlich Betroffene und Bedrohte der klimatischen Veränderungen. (So geht eine Studie der ETH Zürich davon aus, dass sich das Stadtklima großer Städte bis 2050 um bis zu 4,70 Celsius erhöhen wird.) In ihnen laufen „Wohlstands-, Energie-, Ressourcen-, Mobilitäts- und Ernährungswende zusammen“ (Schneidewind, S. 261). Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) benennt in seinem Hauptgutachten „Der Umzug der Menschheit – Die transformative Kraft der Städte“ ein ganzes Bündel an zu bewältigenden Herausforderungen: Stadtgesellschaften sind stark von sozialer Ungleichheit und kultureller Segregation geprägt. Das Arm-Reich-Gefälle und die Gefahr von Ghettobildung und Vereinzelung ist besonders groß, die Teilhabe- und Umweltgerechtigkeit besonders gering [19].

Auch im WBGU-Gutachten spielt Musik keine nennenswerte Rolle. Aber wer sich schon einmal mit der gemeinschaftsbildenden Funktion der Musik in traditionellen Gesellschaften beschäftigt hat, dem fällt ein anderer Begriff ins Auge, der in dieser Studie über neunzigmal vorkommt: „Kohäsion“. Der Begriff steht für Teamgeist und Wir-Gefühl; die Autor*innen der WBGU-Studie beziehen ihn „auf das Verhältnis der Gruppenmitglieder untereinander, auf ihre Bereitschaft zur Kooperation, auf gemeinsame Werte und Vorstellungen und auf die Identifikation des Einzelnen mit der Gruppe“ (WBGU 2016, S. 98). Soziale Kohäsion, so machen sie deutlich, spielt für die urbane Transformation eine zentrale Rolle und muss „stets aktualisiert und durch soziale Interaktion und Kommunikation hergestellt werden“ (ebd.).

Und an dieser Stelle kommt die Musik ins Spiel. Ob religiöse Selbstvergewisserung oder fußballerische Fankultur, ob Karneval oder Fridays for Future-Demos: Für die Kohäsion kultureller oder ideeller Gemeinschaften spielt Musik seit jeher eine zentrale Rolle – im Guten wie im Schlechten. Sie wurde missbraucht für manipulative Gleichschaltung von oben und stärkte gemeinsamen Widerstand von unten [20]. Manche Neurowissenschaftler*innen sehen in der Fähigkeit, sich musizierend aufeinander einzustimmen, sogar einen wichtigen Evolutionsfaktor [21] und betrachten die angeborene Musikalität als jenen Teil unseres genetischen Programms, der die biologische Grundlage für Sprachfähigkeit und kollektives Handeln bildet: „Musik ist (…) die Sprache der Gruppe und Sprache ist die Musik des Individuums“ (Kölsch, S. 26).

Soziale Kohäsion mit musikalischen Mitteln funktioniert am besten dort, wo aktiv gemeinsam musiziert wird. Das Problem ist bloß, dass ein solches Miteinander normalerweise kulturelle Homogenität voraussetzt und herkömmliche „Musiziergemeinschaften“ deshalb fast immer in einem exklusiven kulturellen, ideellen oder religiösen Milieu angesiedelt sind. Heutige Großstädte aber zeichnen sich nicht durch Homogenität, sondern durch kulturelle Diversität und soziale Segregation aus. Eine ortsbezogene musikalische Gemeinschaftsbildung wird dadurch auf den ersten Blick erschwert. Unmöglich aber ist sie nicht und wird in interkulturellen Stadtteilchören, Ensembles und Jam-Sessions hierzulande bereits vielerorts praktiziert. Allein im Zuge der „Willkommenskultur“ von 2015/16 entstanden unzählige neue, musikalische Begegnungsaktivitäten zwischen Alteingesessenen und Geflüchteten (vgl. https://integration.miz.org/).

Vor allem aber gibt es – gerade in Deutschland – in fast jeder größeren Stadt Orte des Musizierens, die einst aus der Utopie eines stände- und religionsübergreifenden Bürgertums entstanden sind und zumindest theoretisch, gemessen an den eigenen ideellen Ansprüchen, „für alle“ da sein sollten: Konzertsäle. Aus Sicht der WBGU-Studie spielen die großen Institutionen der klassischen Hochkultur eine eher problematische Rolle als „exklusive Räume der Kulturproduktion und des Kulturkonsums (…), von denen weniger mobile, talentierte oder begüterte Gruppen ausgeschlossen sind“ (WBGU 2016, S. 260). Was sich in dieser Einschätzung widerspiegelt, ist das herkömmliche Bild des kulturellen „Elfenbeinturms“, in dem aktive Partizipation nicht vorgesehen ist und der die kulturelle Segregation eher verstärkt als mindert. Doch in Wirklichkeit hat das Umdenken längst begonnen. Laut einer Statistik der Deutschen Orchestervereinigung (Link zum PDF) hat in der Spielzeit 2017/18 die Zahl der musikpädagogischen Veranstaltungen deutscher Orchester erstmals jene der groß besetzten Konzerte überstiegen. Hinter dieser Zahl verbirgt sich ein überaus erfolgreicher Prozess der Transformation und Öffnung, der mittlerweile schon seit einem Vierteljahrhundert andauert. Eine ehemals elitäre und exklusive „Hochkultur“ hat begonnen, sich von innen heraus in Richtung Offenheit und Dialogbereitschaft zu reformieren. Aus einstigen Fachleuten für barocke Verzierungspraxis oder experimentelles Musiktheater sind Expert*innen für interkulturelle Brückenschläge oder für interaktive Begegnungen mit den unterschiedlichsten Zielgruppen geworden. In seinen Anfangsjahren wurde dieser Öffnungsprozesses vor allem als Vermittlung und Verbreitung der eigenen Inhalte und Werte verstanden: Eine typisch „expansiv“ geprägte Motivation. Doch auch diese Zielrichtung beginnt sich allmählich zu wandeln. Das musikvermittlerische Handwerkszeug wird zunehmend in den Dienst übergeordneter gesellschaftlicher Ziele gestellt. Aus dem „Audience Development“ der Anfangsjahre wird schrittweise eine gemeinwohlorientierte „Community Music“, der es um Inklusion, Teilhabegerechtigkeit oder die Überwindung von kultureller Fremdheit geht und die vor allem dort zum Tragen kommt, wo es an traditionell gewachsenen und kollektiv identitätsstiftenden Formen fehlt.

Zukunftsmusik mitgestalten

Gesetzt den Fall, inmitten der Klimakrise würde plötzlich eine neue Form der Primärenergie mit geradezu märchenhaften Eigenschaften auftauchen: hundertprozentig klimaneutral, nie versiegend, extrem effizient. Was würden wohl die großen Energiekonzerne tun? Würden sie alles daran setzen, diese Energieform allen kostenlos zugänglich zu machen? Oder würden sie nach Wegen suchen, durch Abschottung das eigene Monopol zu schützen? Wir Musiker*innen verfügen über eine solche Primärenergie. Sie kostet nichts und ist unbegrenzt teilbar, verbessert spürbar die Lebensqualität, lädt in ähnlichem Maße zu Schwelgerei und Genuss ein, wie eine luxuriöse Reise- oder Esskultur, ohne dass dafür ein einziges Gramm CO2 in die Atmosphäre gelangen muss. Was tun wir damit? Und was könnten wir damit tun, wenn wir das Paradigma des Expansiven hinter uns ließen? Wie könnten wir unser eigenes Übermaß an Energie, Kreativität und Knowhow nutzen, wenn wir aufhören würden, immer größer, perfekter, globaler, unterhaltsamer, dynamischer, vielfältiger und fortschrittlicher werden zu wollen?

Es gibt sie längst, die Seconda pratica unserer Zeit, die wir Musikerinnen und Musiker als konkrete Utopie in den Umbau unserer Gesellschaft einbringen könnten. Die Frage ist bloß, wie weit wir dabei zu gehen bereit sind. Haben wir den Mut, die „expansive Moderne“ hinter uns zu lassen und in unserem eigenen Wirkungsbereich beispielhaft die „Kunst der Reduktion“ vorzuexerzieren? Sind wir bereit, Reputation und Erfolg von internationaler Präsenz und Ausstrahlung zu entkoppeln und an die Stelle des rastlosen Festival- und Tourneebetriebs eine regionale und radikal partizipative kulturelle Kontinuität treten zu lassen? Wenn ja, dann könnten wir schon in der übernächsten Spielzeit damit beginnen, unsere berufliche Reisetätigkeit drastisch zu reduzieren und uns stattdessen auf die urbane Transformation in unserem jeweiligen Nahbereich zu konzentrieren.

Städtisches Leben zeichnet sich durch ein hohes Maß an Automatisierung, Konsum und Fremdversorgung aus. Um aus der stetigen Wachstumsspirale auszusteigen, braucht es nach Ansicht von „Post-Wachstums-Ökonomen“ neue Formen der Gemeinschaftsnutzung, Selbstversorgung und Entschleunigung: Tausch-, Reparatur- und Nutzungsgemeinschaften, urbane Landwirtschaft, regionale Märkte und Währungen [22]. Das Musikleben könnte darauf antworten, indem es konsequent und systematisch damit fortfährt, professionalisierte Fremdversorgung in musikalisches „Empowerment“ zu transformieren. Wir könnten uns dabei beispielsweise die Kirchenmusik zum Vorbild nehmen, die uns vielerorts vorexerziert, was es bedeuten kann, regionale kulturelle Verantwortung zu übernehmen: Die Pyramide des professionalisierten Konzertbetriebs vom Kopf auf die Füße zu stellen und das alltägliche, gemeinschaftsstiftende und niedrigschwellige Singen und Musizieren wieder zur Basis des Musiklebens zu machen [23].

Wir könnten den Anteil der professionalisierten Vorführkultur weiter reduzieren und verstärkt der kulturellen und sozialen Segregation entgegenwirken, indem wir nicht nur hin und wieder projektweise zur Partizipation einladen, sondern der Stadtgesellschaft ihre Konzertsäle zurückgeben. Wir könnten dabei insbesondere das interkulturelle, generationsübergreifende und inklusive Laienmusizieren stärken und unseren Stadtbevölkerungen kulturelle Tapetenwechsel und grenzüberschreitende Begegnungsabenteuer im eigenen Stadtviertel anbieten, für die es keine Fernreisen braucht. Wir könnten die Programmplanung schrittweise vergemeinschaften und von möglichst divers besetzten Dramaturgieparlamenten gestalten lassen, in denen sich die soziale, kulturelle, religiöse und generationelle Vielfalt der jeweiligen Stadtgesellschaft wiederspiegelt. Unsere Konzert- und Opernhäuser könnten auf diese Weise zu Experimentallaboren der interkulturellen Begegnung und des urbanen Wandels werden.

Wir könnten uns mit all unseren Ressourcen und unserer Kreativität offensiv in die aktuelle kommunale „Klimanotstands“-Bewegung einbringen [24] und sie durch eine zusätzliche Dimension von Schönheit und Lebensqualität anreichern. So könnten wir beispielsweise die Taktung unserer Spielpläne überdenken, die gegenwärtig noch dazu führt, dass das lokale Kulturangebot in den Sommerferien vielerorts zum Erliegen kommt, während die touristischen Hochburgen mit großen Sommerfestivals und Gastspielen um Urlauber*innen buhlen. Wir könnten dabei dem Beispiel des Sozialwissenschaftlers Davide Brocchi folgen, der seit 2012 in verschiedenen Städten geld- und autofreie „Tage des guten Lebens“ [25] initiiert. Warum nicht einmal die Sommerferien unter aktiver Beteiligung aller örtlichen Musikinstitutionen zu „Wochen des guten Lebens“ machen und auf diese Weise der exzessiven und klimaschädlichen Urlaubs- und Mobilitätskultur eine neue „Kultur des Daheimbleibens“ entgegensetzen?

Natürlich kann und darf es nicht nur diesen einen Weg geben. Die Größe der ökologischen Herausforderung macht es notwendig, dass unterschiedliche Nachhaltigkeitsstrategien Hand in Hand gehen. Kultureller Wertewandel und technologische Instrumente dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden: „Plurale Nachhaltigkeitsökonomik kommt einstweilen ohne eine gesunde Portion Ambiguitätstoleranz nicht aus“ (Loske, S. 125). Ich will deshalb nicht in Frage stellen, dass auf dem Weg zu einem zukunftsfähigen Musikleben möglicherweise auch technologische Lösungen wie das gegenwärtig boomende Konzept der digitalen Konzert- und Opernhäuser eine Rolle spielen können. Denkbar wäre beispielsweise eine „smarte“, gesamteuropäisch und institutionsübergreifend vernetze Tourneeplanung, die es Orchestern und anderen großen Ensembles ermöglichen würde, ihre Gastspiele untereinander zu koordinieren und den dafür nötigen Reise- und Transportaufwand zu minimieren. Da ich aber selber kein Verfechter digitaler Innovation bin, sondern sie auch und gerade mit Blick auf ihre Folgen für Klima und Umwelt mit großer Skepsis betrachte [26], fühle ich mich nicht dazu berufen, entsprechende technologische Ansätze aktiv zu propagieren.

Der säkulare Konzertsaal wurde einst erfunden, um dem neu entstehenden Bürgertum eigene Rituale und Ausdrucksformen zu geben. Selbstbewusst die Haltung des kontemplativen und kultivierten Stillsitzens einzunehmen, die bis dahin dem Adel vorenthalten war, war Ausdruck eines neuen Wir-Gefühls und einer gesellschaftlichen Vision. Die zentrale Vision von heute – ein zukunftsfähiges Zusammenleben innerhalb der planetaren Leitplanken – bringt neue Werte und Ziele hervor: Eine schrittweise Überwindung der Fremdversorgung, eine Reduzierung der Mobilität und des Ressourcenverbrauchs, ein Anstiften zur Begegnung und zum Gemeinschaftssinn im Nahbereich. Wenn Musik in diesem Transformationsprozess eine aktive Rolle spielen will, dann wird sie sich Energieneutralität, Partizipation und soziale Kohäsion zu zentralen Bestandteilen ihres eigenen Wertefundaments machen müssen. Die Zutaten dafür sind längst vorhanden. Sie müssten nur konsequent ausgebaut und neu gewichtet werden.

Claudio Monteverdi wollte das „Alte“, die kontrapunktisch-mehrstimmige Prima pratica nicht überwinden oder abschaffen. Auch ich wünsche mir in meinen optimistischsten Zukunftsträumen, dass meine Urenkel noch die Möglichkeit haben werden, eine Monteverdioper, eine Beethovensinfonie oder Cages „Number Pieces“ mitzuerleben. Das Stadtteilorchester und die Mehrgenerationenkantorei werden Monate lang dafür geübt haben. Niemand wird um der Aufführung willen in ein Flugzeug gestiegen sein. Und in das Lampenfieber, den Ärger über falsche Töne (die es gottlob wieder reichlich geben wird) und die Freude am gemeinsamen Gelingen wird sich noch etwas Weiteres mischen: Das beglückende Wissen, gemeinsam mit dieser wunderbaren Musik überlebt zu haben.


Anmerkungen

[1] Meine beruflichen Bahnfahrten schlagen mit rund 700 bis 1.000 kg CO2 pro Jahr zu Buche (berechnet nach https://www.co2online.de/klima-schuetzen/mobilitaet/bahn-oder-flugzeug-der-vergleich/). Damit sind bereits ein Drittel bis die Hälfte jener Gesamtemissionen verbraucht, die jedem Erdenbürger jährlich zustehen (vgl. https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/klimaschutz_in…, S. 10f.).

[2] Zwei vereinzelte Ausnahmen aus jüngerer Zeit sind die Konzertperformance „Dies Irae“ von Patricia Kopatchinskaja und das Öko-Oratorium „Mutter Erde“ von Hartmut Tripp.

[3] Kate Raworth: Die Donut-Ökonomie, München 2018, S. 65 [im Folgenden: Raworth]

[4] Vgl. Bernd Sommer: Entkoppelung: Sind stetiges Wirtschaftswachstum und eine nachhaltige Entwicklung vereinbar?, in: Harald Welzer/ Klaus Wiegandt: Wege aus der Wachstumsgesellschaft, Frankfurt a.M. 2013, S. 12–34, hier: S. 14–23

[5] Der gegenwärtige Zustand der Permafrostböden deutet darauf hin, dass bisherige Berechnungen möglicherweise zu optimistisch waren. Vgl. https://www.agentur-zukunft.eu/2019/07/130-arktis-taut-70-jahre-frueher…

[6] Uwe Schneidewind: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M. 2018, 140 [im Folgenden: Schneidewind]

[7] Michael Kopatz: Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten, München 2018 [im Folgenden: Kopatz]

[8] John McNeill, zit. nach Bernd Sommer/Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München 2017, S. 15 [im Folgenden: Sommer/Welzer].

[9] Vgl. https://van.atavist.com/klima-deutschland und http://www.miz.org/news_9418.html

[10] https://van.atavist.com/helsingborg-ausgeflogen

[11] 1972 publizierte der Club of Rome die Studie „Die Grenzen des Wachstums“. Der klimatische Treibhauseffekt und andere Fragen der globalen ökologischen Nachhaltigkeit wurden bereits 1969 durch US-Präsident Nixon und seit 1972 mehrfach durch die UN auf die globale politische Agenda gesetzt.

[12]  Eine wichtige Rolle bei dieser Einschätzung spielen die sogenannten „Rebound-Effekte“, die dazu führen, dass technologisch ermöglichte Effizienzgewinne einen Impuls für wachsenden Konsum in sich bergen und ihr ökologischer Nutzen deshalb durch Mehrverbrauch wieder aufgezehrt wird (vgl. hierzu auch https://www.umweltbundesamt.de/themen/abfall-ressourcen/oekonomische-re… und https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/rebound_effekt_1822.htm

[13] Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, Frankfurt 2019, S. 43 [im Folgenden: Welzer 2019]

[14] Vgl. Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a.M. 2013

[15] Vgl. Reinhard Loske: Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen einer Nachhaltigkeitswende, Frankfurt a.M. 2015, S. 187 [im Folgenden: Loske].

[16] Vgl. Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012

[17] Mathis Wackernagel, zit. nach Bernd Sommer/ Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München 2017, S. 27 [im Folgenden: Sommer/Welzer]. Das Originalzitat bezieht sich nicht auf den innermusikalischen sondern auf den ökologisch-ökonomischen Paradigmenwechsel.

[18] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Der Umzug der Menschheit. Die transformative Kraft der Städte, Berlin 2016, S. 437 [im Folgenden: WBGU 2016]

[19] Dies gilt vor allem dort, wo unterschiedliche Stadtformen parallel existieren – wo also an den Rändern des formellen Stadtgebietes neue „informelle Siedlungen“ oder Flüchtlingslager entstehen, die, Schätzungen zufolge, in den kommenden Jahrzehnten weltweit mehr als eine Milliarde Menschen beherbergen werden (vgl. Schneidewind, S. 264).

[20] Vgl. Wolfgang Suppan: Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik, Mainz 1984

[21] Vgl. Stefan Kölsch: Good Vibrations. Die heilende Kraft der Musik, Berlin 2019, S. 23ff. [im Folgenden: Kölsch]

[22] Vgl. Niko Paech: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München 2012, S. 113ff.

[23] Ich halte das „Prinzip Kirchenmusik“ mit seiner organischen und pyramidalen Struktur für eines der wichtigsten Vorbilder für ein zukunftsfähiges Musikleben. Aufbauend auf dem Singen der Gemeinde und dem partizipativen Musizieren in den Gemeindechören stellen die „großen“ Konzerte hier, anders als im säkularen Konzertbetrieb, nicht den täglichen Normalfall dar, sondern bilden als festlicher Höhepunkt und Sonderfall die „Spitze der Pyramide“.

[24] Zwischen Mai und Juli 2019 haben hierzulande 42 Städte den Klimanotstand ausgerufen. Unter den lokalen Initiatoren finden sich Parteien, Umweltinitiativen und Privatpersonen, bislang aber keine einzige Kulturinstitution; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_deutscher_Orte_und_Gemeinden,_die_den_Klimanotstand_ausgerufen_haben

[25] Vgl. David Brocchi: Große Transformation im Quartier. Wie aus gelebter Demokraite Nachhaltigkeit wird, München 2019, S. 65ff. Siehe auch www.tagdesgutenlebens.de/

[26] So hat der Umstieg des Musikkonsums von CDs und Schallplatten auf Online-Streaming-Dienste zu einer deutlichen Erhöhung der CO2-Emissionen geführt (vgl. https://phys.org/news/2019-04-music-effects-climate.html). Auch in anderen Bereichen entpuppt sich die Digitalisierung in wachsendem Maße als Teil des Klimaproblems. Vgl. hierzu u.a. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Unsere gemeinsame digitale Zukunft, Berlin 2019 (https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2019/pdf/WBGU_HGD2019_Z.pdf) und The Shift Project: Lean ICT. Towards digital sobriety, Paris 2019 (https://theshiftproject.org/en/article/lean-ict-our-new-report/).

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