Die Uralregion zählt zu den reichsten Landstrichen der Russischen Föderation. Bereits seit dem späten 18. Jahrhundert werden dort Bodenschätze wie Uran, hochwertige Metalle und Seltene Erden gefördert und verarbeitet, die Palette der Schwerindustrie reicht vom Turbinenbau bis zur Panzerfabrikation. Insbesondere die Atom- und Rüstungsindustrie sorgte jedoch auch dafür, dass diese Region in der Zeit des Sowjetimperiums vom Rest der Welt strengstens abgeschottet wurde. Etliche Städte im Ural waren bis 1991 „geschlossene Städte“ und für Besucher, geschweige denn Touristen, absolut tabu. Bis heute dringt nicht eben viel aus dem Ural in den Westen. Und wenn, dann vorwiegend schlechte Nachrichten. Wie generell aus Russland in diesen Tagen, in denen Wladimir Putin sich nach wie vor als starker Mann inszeniert, rigoros gegen politische Gegner vorgeht und auch in der Kulturpolitik seine gestylten Muskeln spielen lässt.
Erst kürzlich wurde in Perm in der Uralregion der experimentierfreudige Museumschef Marat Gelman entlassen und das renommierte Festival „Pilorama“ abgesagt. Nicht zufällig traf es gleich zweimal eine Stadt im Ural. Putin will mit diesen Gesten demonstrieren, dass sein langer Arm bis nach Sibirien reicht. Tatsächlich aber blüht das Kulturleben 2.000 Kilometer östlich von Moskau in allen Bereichen, Putin belässt es wohlweislich bei einzelnen symbolischen Durchsetzungsgesten. Denn er braucht den Ural.
Nichts beschreibt die widersprüchliche Situation der selbstbewussten Region besser als die Philharmonie in der 1,5-Millionenstadt Ekaterinburg, die in der Sowjetzeit Swerdlowsk hieß: Das Gebäude aus den späten 1930erJahren liegt an der schnurgeraden Karl-Liebknecht-Straße, wenige Schritte entfernt von der pompösen „Kathedrale auf dem Blut“, die erst vor wenigen Jahren an jener Stelle errichtet wurde, wo 1918 die Zarenfamilie ermordet wurde. Neben dem Eingang der Philharmonie befindet sich auf der Loggia-Terrasse eine trendige Shisha-Bar, in der die Jugend mit ihren Laptops abhängt, auf der linken Seite liegt der Eingang zu Ekaterinburgs bestem Restaurant „Crêpe de Chine“, in der die gut Betuchten sterneverdächtige asiatisch-italienische Crossover-Küche verspeisen. Das Konzerthaus selbst ist blitzblank saniert, von den frisch restaurierten Wandmalereien im Stil des sozialistischen Realismus bis hin zu den nagelneuen Sanitäranlagen. Das hätte man nicht erwartet im fernen Ural.
Eher schon die riesige Maschinenbau-Fabrik Uralmash, die ein großflächiges Areal mitten in der Stadt beansprucht und einer der Hauptsponsoren der Philharmonie war. Nicht weniger als 265 Konzerte pro Saison finden hier statt, die Auslastung liegt bei traumhaften 95 Prozent und dem dort ansässigen Ural Philharmonic Orchestra eilt ein legendärer Ruf voraus. Es soll eines der besten, wenn nicht sogar das beste Orchester Russlands sein.
Zum Abschluss der Saison gab es im Juli ein kleines Festival in der Philharmonie: vier Konzerte mit rein russischen Programmen unter Beteiligung des Philharmonischen Chors (Profisänger) und des 70-köpfigen Jugendorchesters. Auf dem Konzertplakat prangte stolz das alte Zarenwappen. Tatsächlich ist der Klang des jungen und mit hoher Frauenquote besetzten Ural Philharmonic Orchestras überwältigend brillant, unglaublich homogen, wuchtig und doch transparent. Chefdirigent Dmitri Liss – ein Schüler von Dmitri Kitajenko – verließ 1995 Moskau, um das Orchester in Ekaterinburg zu formen, aber schon damals „war die Qualität unglaublich“. Zuvor hatte Andrey Boreyko, der heute in Düsseldorf GMD ist, die Geschicke des Orchesters für kurze 18 Monate geleitet. Liss ist nun seit 18 Jahren Chef des Klangkörpers: „Alles hat sich verändert seit damals. Vor allem aber das Selbstwusstsein des Orchesters, seine Haltung. Als ich kam, waren sie sehr introvertiert, um nicht zu sagen frustriert. Jetzt ist das Orchester ein anerkannter gesellschaftlicher Faktor in der Stadt.“
Liss ist ein feinsinniger Mensch, der leise spricht und auf dem Podium unaufgeregte, aber elegante und höchst präzise Gesten einsetzt. Auch bei Tschaikowskys martialischer Ouvertüre „1812“, wenn zu dem Riesenapparat auf der Bühne noch Dutzende Blechbläser im Saal zu koordinieren sind, verliert er nicht den Überblick. Russische Symphonik bildet den Kern des Repertoires des Orchesters, aber auch die späte Klassik und französische Romantik stehen häufig auf dem Programm. Und, was Dmitri Liss als Ehemann einer Komponistin besonders wichtig ist: „Wir spielen mehr Zeitgenossen als jedes andere russische Orchester!“
Liss ist der künstlerische Kopf der Philharmonie. Aber der Macher des musikalischen Wunders von Ekaterinburg ist Alexander Kolotkursky. Hierzulande würde man ihn Intendant nennen, in Russland gibt es diesen Titel nicht. Gäste empfängt Kolotkursky mit Entourage schon vor dem Eingang der Philharmonie. In seinem Büro hängen Zertifikate von Management-Crashkursen in den USA, doch darauf angesprochen, winkt er ironisch ab. Mit antrainiertem Management-Wissen kommt man im Ural nicht weit. Aber „Geschäfte funktionieren in der ganzen Welt auf die gleiche Weise“.
Kolotkursky jongliert mit vielen Bällen: Er pflegt gute Verbindungen mit der Macht, man lässt ihn in Ruhe. „Ich kämpfe nicht mit der Macht“, sagt er sibyllinisch lächelnd, denn vor allem arbeitet er an seiner finanziellen Unabhängigkeit. Je mehr Sponsoren er auftreibt, desto bereitwilliger geben aber auch die öffentlichen Stellen Gelder. Das ist russische Logik. Die Unterstützung nimmt Kolotkursky zwar gern, er hütet sich aber vor ausschließlicher Abhängigkeit von der Politik. Deshalb hat er innerhalb der letzten dreißig (!) Jahre ein riesiges Netzwerk aufgebaut: Der Freundeskreis der Philharmonie zählt sagenhafte 24.000 Mitglieder, ein ganzer Stab von Mitarbeitern tut nichts anderes, als dieses Netzwerk zu pflegen und „Geld auf der Straße aufzusammeln“, wie seine Chef-Netzwerkerin Alla Petrova-Lemachko sagt, deren iPhone pausenlos klingelt.
Als Kolotkursky in den 1980er-Jahren die Arbeit an der Philharmonie aufnahm, hatte er die üblichen Probleme: „Der Saal war kaum halb voll mit überwiegend alten Leuten.“ Heute ist das Publikum auffallend jung, denn allein 35 Mitarbeiter kümmern sich um pädagogische Programme. Doch damit nicht genug: Im Laufe der Jahre hat Kolotkursky sieben Konzerthaus-Filialen im weiteren Umfeld von Ekaterinburg aufgebaut, seit 2005 gibt es 25 virtuelle Filialen bis tief hinein in den Ural, in die Konzerte via Internet im Live-Stream übertragen werden. Meist sind es die örtlichen Bibliotheken, in denen sich das Publikum versammelt. 5.000 Euro investiert Kolotkursky pro Standort in die Technologie, der Eintritt für die 47 Konzertübertragungen pro Saison ist kostenlos. Kolotkursky ist weiter auf Wachstumskurs, in Ekaterinburg ist ein Probenhaus im Bau und vor allem plant er einen neuen Konzertsaal, der in der kühnen Architektur eines gekippten Würfels direkt am See mitten in der Stadt errichtet werden soll: „Die alte Philharmonie ist schon längst viel zu klein für unser wachsendes Publikum.“
Ekaterinburg hat sich für die Expo 2020 beworben, davon erhofft sich die Stadt in jeder Hinsicht Auftrieb, auch für die ohnehin aufstrebende Kultur. Kulturminister Pavel Krekow, ein studierter Theatermann und Philosoph redet sehr diplomatisch, gibt sich aber generell zuversichtlich: „Wenn die Expo kommt, kriegen wir auch die neue Philharmonie.“ Auf die Frage nach seinem Lieblingskomponisten kommt die Antwort mit einem feinen Lächeln und wie aus der Pistole geschossen: „Alfred Schnittke.“ Ob Bernd Neumann wohl Helmut Lachenmann nennen würde? Schwer vorstellbar.
Aber wie geht das alles zusammen im fernen Ural? Zaren-Nostalgie, Internetzeitalter und Konzertmanagement des 21. Jahrhunderts? Alexander Kolotkursky sieht in der Rückbesinnung keinen Widerspruch zum Fortschritt: „Der Geschichte wenden wir uns erst jetzt zu und analysieren, was eigentlich passiert ist. Aber der Weg geht hin zu einer offenen Gesellschaft, nicht zurück.“ Im September gastiert das wunderbare Orchester aus Ekaterinburg erstmals in Deutschland beim Bonner Beethovenfest.